Eine Novelle von Felix Schmidt
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Kapitel 1: Die We Space Gemeinschaft macht etwas verdammt richtig (oder: Warum ich mein Sofa verließ)
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein moderner Mensch des 21. Jahrhunderts, der im glücklichen Besitz eines funktionierenden Smartphones, eines Breitband-Internetanschlusses, eines Netflix-Abos und eines Kühlschranks ist, in dem sich zumindest ein halbes Glas Gewürzgurken und ein Stück Cheddar befinden, absolut keinen vernünftigen, rationalen Grund hat, das Haus zu verlassen. Vor allem nicht, um sich mit einer Gruppe völlig fremder Leute in einen Kreis zu setzen und – ich zögere, das Wort überhaupt zu tippen – über Gefühle zu reden.
Evolutionär gesehen ist das Haus, genauer gesagt das Wohnzimmer, und noch genauer das Sofa, der Gipfel der menschlichen Zivilisation. Unsere Vorfahren verbrachten Millionen von Jahren damit, vor Säbelzahntigern wegzulaufen, in feuchten Höhlen zu frieren und Beeren zu essen, die mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit tödlich waren. Sie taten dies alles mit dem einzigen, unbewussten Ziel, dass ihre Nachkommen – also wir – eines Tages auf einem gepolsterten Möbelstück liegen können, die Temperatur per Knopfdruck regeln und Essen bestellen, das von einem Fremden auf einem Motorroller gebracht wird, ohne dass wir jemals mit diesem Fremden sprechen müssen. Die soziale Isolation, so könnte man argumentieren, ist kein Unfall der Moderne; sie ist die ultimative Belohnung für das Überleben der Stärksten.
Und doch war ich hier.
Ich befand mich in einem Raum, der – und das war die erste von vielen Enttäuschungen meiner Vorurteile – weder nach Turnhalle noch nach Kirche roch. Meine bisherigen Erfahrungen mit organisierter Gemeinschaftsbildung waren olfaktorisch meist irgendwo zwischen dem säuerlichen Duft von altem Angstschweiß und der schweren, betäubenden Süße von billigem Weihrauch angesiedelt. Man erwartet bei solchen Anlässen instinktiv Batik-Wandbehänge, Traumfänger und Menschen, die Leinenhosen tragen, welche beim Gehen leise rascheln. Man erwartet Sätze wie: „Ich spüre eine Blockade in deinem Wurzelchakra, Billy“, oder „Lass uns das mal atmen“.
Stattdessen roch es nach… nun ja, nach Raum. Nach gelüftetem Parkett und vielleicht einer leichten Note von Kaffee, den jemand in der Küche kochte. Ich war hier, um etwas zu erforschen, das sich „We Space“ nennt. Wenn man wie ich den Großteil seines Lebens damit verbracht hat, soziale Interaktionen so zu optimieren, dass man möglichst schnell wieder allein sein kann, um ein Buch über die Geschichte des Reißverschlusses zu lesen, klingt „We Space“ – zu Deutsch etwa „Wir-Raum“ – zunächst einmal wie eine subtile Drohung. Es klingt nach Händchenhalten, nach erzwungenem Augenkontakt und nach dem Verlust jener wunderbaren, schützenden Schicht aus Zynismus, die uns im Alltag so treu begleitet.
Aber, und das muss ich zu meiner großen, fast schon beschämenden Verblüffung gestehen: Das hier war anders. Die „We Space“ Gemeinschaft ist kein Verein von einsamen Herzen, die jemanden zum Kuscheln suchen (obwohl die Grenze zwischen menschlicher Nähe und dem, was man in Deutschland „Kuschelparty“ nennt, historisch gesehen oft beunruhigend dünn war – dazu später mehr). Es handelt sich vielmehr um eine Gruppe von Menschen, die sich der radikalen und beinahe revolutionären Idee verschrieben haben, dass man Einsamkeit nicht durch mehr Facebook-Freunde oder effizientere Dating-Apps bekämpft, sondern durch eine archaische Technik, die wir fast verlernt haben: echte Begegnung.
Die Anatomie der Angst (und warum wir trotzdem hingehen)
Bevor wir uns dem widmen, was in diesem Raum geschah, müssen wir einen kurzen Blick darauf werfen, warum die bloße Idee einer „Encounter-Gruppe“ (Begegnungsgruppe) bei einer durchschnittlichen Mitteleuropäerin sofort Fluchtinstinkte auslöst. Historisch gesehen ist die Gruppe gefährlich. In der Steinzeit bedeutete der Ausschluss aus der Gruppe den sicheren Tod. Heute, in der Ära des Individualismus, fürchten wir paradoxerweise das Gegenteil: die Vereinnahmung durch die Gruppe. Wir haben Angst vor Sekten, vor „Groupthink“, vor dem Verlust unserer Autonomie. Wenn jemand sagt: „Wir treffen uns, um authentisch zu sein“, hört unser Gehirn: „Wir treffen uns, um dich zu assimilieren und dir deine Kreditkartennummer abzuschwatzen.“
Die Knowledgebase dieser Bewegung, ein Dokument, das so umfangreich ist, dass es vermutlich eigene Gravitationskräfte entwickelt, verrät uns, dass die Wurzeln dieses Experiments überraschenderweise nicht in esoterischen Ashrams liegen, sondern im Improvisationstheater der frühen 2000er Jahre. Das macht Sinn. Im Improtheater geht es um das „Ja, und…“. Es geht darum, das Angebot des anderen anzunehmen und darauf aufzubauen. Im echten Leben hingegen lautet unser Standardmodus eher „Ja, aber…“ oder „Nein, geh weg“. Die Gründer, nennen wir sie Felix und Caro (denn so heißen sie tatsächlich, und Anonymität wäre hier kontraproduktiv), erkannten irgendwann um 2006 herum, dass die Momente der tiefsten Verbindung auf der Bühne passierten, wenn die Masken fielen. Sie fragten sich: Was wäre, wenn wir die Bühne weglassen? Was wäre, wenn das Theaterstück unser Leben ist, aber ohne Skript?
Das Ergebnis ist der „We Space“. Und um zu verstehen, warum das kein esoterischer Kaffeeklatsch ist, muss man sich mit etwas beschäftigen, das in den internen Papieren der Gruppe als „DNA“ bezeichnet wird.
Kein Regelwerk, sondern ein Organismus
Wenn Deutsche etwas organisieren, schreiben sie normalerweise eine Satzung. Sie wählen einen Kassenwart, einen Schriftführer und jemanden, der dafür verantwortlich ist, dass die Mülltrennung eingehalten wird. Das ist ordentlich, das ist sicher, das ist tödlich langweilig. Die We Space Gemeinschaft hat einen anderen Weg gewählt. Sie nutzen z.B. die Webseite www.tribestarter.org. Ein kleines Universum für sich. Es ist, wie sie selbst sagen, eine „DNA“. Dieses Dokument ist keine Satzung.
Die Metapher ist überraschend treffend. Eine DNA ist kein starres Gesetzbuch, das in Stein gemeißelt ist. Sie ist ein Code, der sich repliziert, der mutiert, der sich anpasst. In der Biologie führt ein Fehler in der DNA meistens zu etwas Unangenehmem wie einem dritten Ohr auf der Stirn. In sozialen Gruppen hingegen sind „Fehler“ – oder Mutationen – oft der Beginn von Evolution. In der Sammlung heißt es dazu fast poetisch: „Dieser DNA Text dient als konkreter Vorschlag… und als Quelle der Orientierung, was hier genau für eine Gruppe entstehen soll.“
Das bedeutet: Die Gruppe erschafft den Text, und der Text erschafft die Gruppe. Es ist ein Henne-Ei-Problem, aber eines, bei dem am Ende hoffentlich ein Omelett der menschlichen Wärme herauskommt. Was mich besonders faszinierte – und was jeden, der schon einmal in einer Eigentümerversammlung saß, in ungläubiges Staunen versetzen muss – ist das Konzept der Rollenverteilung. Es gibt keinen Guru. Es gibt keinen Anführer, der vorne steht und sagt: „Heute öffnen wir unsere Herzen, und zwar zackig!“ Stattdessen gibt es „Hosts“ (Gastgeber) und „Hüter“.
Der Host ist, vereinfacht gesagt, derjenige, der den Schlüssel hat und weiß, wie die Kaffeemaschine funktioniert. Er schafft den Raum, im physischen wie im übertragenen Sinne. Der Hüter ist eine noch spannendere Figur. Er ist kein Polizist. Er verteilt keine Strafzettel für „falsches Fühlen“. Seine Aufgabe ist es, die „DNA“ zu bewahren. Er achtet darauf, dass die Prinzipien, auf die man sich geeinigt hat, nicht im allgemeinen Chaos untergehen. Er ist weniger ein Diktator und mehr wie ein freundlicher Gärtner, der ab und zu ein Unkraut zupft, damit die Rosen (also wir)
Eigentlich sich alle Teilnehmer eines Events Hüter, die die DNA gelesen haben sollten, und diese proaktiv wechselseitig einfordern und daran erinnern. Aber es kann auch eine konkrete Person diese Rolle annehmen, um den Gruppenprozess zu sensibilisieren.
Das Ich-Wir-Pendel: Die Physik der Begegnung
Nachdem ich also meine Schuhe ausgezogen hatte (eine universelle Konstante in solchen Gruppen: Schuhe sind die Feinde der Seele), setzte ich mich in den Kreis. Die meisten Menschen in diesem Kreis sahen erschreckend normal aus. Da war ein Mann in einem grauen Pullover, der aussah wie jemand, der Steuererklärungen liebt. Da war eine andere Frau mit einer Brille, die sie intellektuell wirken ließ, und ein jüngerer Typ, der aussah, als hätte er gerade sein Start-up an Google verkauft oder sein Fahrrad verloren.
Das Prinzip, nach dem dieser Abend ablaufen sollte, wird in den Schriften der Gruppe als das „Ich-Wir-Pendel“ bezeichnet. Stellen Sie sich ein Pendel vor. Auf der einen Seite steht das massive, unerschütterliche ICH. Das ist der Ort der Autonomie, der Selbstbestimmung. Hier bin ich Billy, ich mag keinen Kümmel, ich habe Angst vor Bären, und ich möchte bitte nicht angefasst werden. Das ist der sichere Hafen. Wenn wir nur hier bleiben, sind wir sicher, aber wir sind auch einsam. Wir sind Inseln mit sehr hohen Zäunen.
Auf der anderen Seite des Schwungs steht das WIR. Das ist der Ort der Verschmelzung, der Gemeinschaft, das warme Bad der Zugehörigkeit. Hier sind wir Teil eines großen Ganzen. Das klingt toll, ist aber auch gefährlich. Wenn man zu lange im WIR bleibt, löst man sich auf. Man wird zu einer homogenen Masse, die kollektiv nickt und vergisst, dass man eigentlich Kümmel hasst. Das ist der Stoff, aus dem Sekten gemacht sind.
Die Genialität des We Space Ansatzes – und ich verwende dieses Wort nicht leichtfertig – liegt in der Bewegung. Das Ziel ist nicht, in der Mitte stehen zu bleiben. Das Ziel ist es, zu schwingen. Man geht in den Kontakt („Wir“), spürt die Verbindung, und dann – und das ist entscheidend – zieht man sich wieder zurück zu sich selbst („Ich“). Man überprüft: Bin ich noch da? Geht es mir gut damit? In der Knowledgebase wird das als „Pulsieren“ beschrieben. Vitalität entsteht durch Wechsel. Ein Herz, das nicht schlägt (also zwischen Kontraktion und Entspannung wechselt), ist kein Herz, sondern nur ein Muskelklumpen. Eine Gruppe, die nur „Wir“ ist, ist ein totalitäres Regime. Eine Gruppe, die nur „Ich“ ist, ist eine U-Bahn-Fahrt in London.
Die Innere Sicherheit (Kein Ministerium)
Wie aber bringt man wildfremde Menschen dazu, dieses Pendel in Gang zu setzen, ohne dass sie vor Scham im Boden versinken? Das Geheimnis lautet: Innere Sicherheit. Nun denken Sie vielleicht an Wolfgang Schäuble oder gepanzerte Limousinen. Aber in der Terminologie des We Space ist „Innere Sicherheit“ der Zustand, in dem mein Nervensystem nicht mehr schreit: „Gefahr! Ein Säbelzahntiger!“ (oder in diesem Fall: „Gefahr! Ein Mensch, der mir eine persönliche Frage stellt!“).
In der Sammlung gibt es einen wunderbaren Abschnitt darüber, wie diese Sicherheit hergestellt wird. Sie entsteht nicht durch Regeln, die verbieten, gemein zu sein. Sie entsteht durch Transparenz und Freiwilligkeit. Es gibt das „Initiativeprinzip“. Das klingt erst einmal bürokratisch, ist aber der Schlüssel zur Freiheit. Es besagt: Du bist für dein Erleben selbst verantwortlich. Wenn dir langweilig ist, ist es deine Aufgabe, das zu ändern. Wenn du dich unwohl fühlst, ist es deine Aufgabe, das zu sagen oder den Abstand zu vergrößern. Niemand ist hier, um dich zu bespaßen. Niemand ist hier, um dich zu „heilen“.
Das ist eine gewaltige Entlastung. In den meisten sozialen Situationen verbringen wir Unmengen an Energie damit, zu erraten, was die anderen von uns erwarten. Soll ich lachen? War das ein Witz? Habe ich Mundgeruch? Im We Space wird diese Energie freigesetzt. Da die Regel lautet: „Sorge für dich selbst“, muss ich nicht mehr für die anderen sorgen. Paradoxerweise führt genau dieser Egoismus („Ich kümmere mich um mich“) dazu, dass man plötzlich Kapazitäten frei hat, um sich wirklich für den anderen zu interessieren.
Wenn ich weiß, dass der Mann im grauen Pullover für sich selbst sorgen kann und mir sagen würde, wenn ich ihm auf die Nerven gehe, dann kann ich mich entspannen. Ich kann aufhören, Gedanken zu lesen, und anfangen, ihn zu lesen.
Der Moment des Kontakts
Der Abend begann nicht mit einem Gongschlag oder einem gemeinsamen „Om“. Er begann mit Stille. Stille in einer Gruppe ist für den modernen Menschen fast unerträglich. Wir sind darauf konditioniert, jede Pause sofort mit Smalltalk zu füllen. „Schönes Wetter heute.“ „Ja, aber morgen soll es regnen.“ „Ach wirklich? Ich brauche noch Milch.“ Diese Geräuschkulisse dient nur einem Zweck: zu verhindern, dass wir uns wirklich begegnen. Sie ist akustische Watte.
Im We Space ließen wir die Watte weg. Wir saßen da. Jemand atmete etwas lauter. Ein Magen knurrte (meiner, natürlich). Und dann sprach jemand. Es war keine Vorstellung à la „Hallo, ich bin Billy und ich bin Alkoholikerin“. Es war eher ein Bericht aus dem Inneren. „Ich merke gerade, dass ich total nervös bin“, sagte eine junge Frau. „Mein Herz klopt bis zum Hals, und ich frage mich, ob ihr mich alle anstarrt.“
In einer normalen Cocktailparty-Situation wäre das der Moment, in dem alle peinlich berührt auf ihre Schuhe schauen und jemand schnell ein neues Thema vorschlägt. „Haben Sie schon die Krabbenhäppchen probiert?“ Aber hier passierte etwas anderes. Der Mann im grauen Pullover nickte. „Das kenne ich“, sagte er. „Ich fühle mich eigentlich ganz ruhig, aber jetzt, wo du das sagst, merke ich, dass meine Hände schwitzen.“
Das klingt banal. Aber es war elektrisierend. Warum? Weil es wahr war. Wir sind so sehr daran gewöhnt, unsere Unsicherheiten hinter einer Fassade aus Kompetenz und Coolness zu verstecken, dass die bloße Äußerung von „Ich bin unsicher“ wie ein revolutionärer Akt wirkt. Es ist, als würde mitten in einer Theateraufführung ein Schauspieler die Maske abnehmen und sagen: „Leute, dieser Helm juckt fürchterlich.“ Plötzlich ist das Stück vorbei, und das echte Leben beginnt.
Kein Therapie-Ersatz (Aber vielleicht besser)
Es ist wichtig, an dieser Stelle eine klare Grenze zu ziehen, eine Grenze, die auch in der Knowledgebase mit dicken roten Linien (metaphorisch gesprochen) markiert ist. Das hier ist keine Therapie. In einer Therapie gibt es einen Patienten (der „krank“ ist oder ein Problem hat) und einen Therapeuten (der „gesund“ ist und die Lösung kennt). Es gibt ein Machtgefälle. Das Ziel ist Reparatur.
Im We Space gibt es nichts zu reparieren, weil niemand kaputt ist. Das ist zumindest die Arbeitshypothese. Wir sind einfach Menschen, die versuchen, das komplexe Betriebssystem namens „Leben“ zu bedienen, ohne dass uns jemand das Handbuch gegeben hat. Die Knowledgebase betont, dass Encounter-Gruppen für „psychisch stabile Menschen“ gedacht sind, die wachsen wollen. Das ist ein wichtiger Haftungsausschluss, ähnlich wie „Nicht in der Mikrowelle trocknen“ auf einer Katze (oder war es andersrum?). Aber es trifft einen Kern.
Therapie schaut oft in die Vergangenheit: Warum bist du so? (Weil deine Mutter dich als Kind zu oft in karierte Hosen gesteckt hat). We Space schaut in die Gegenwart: Wie bist du jetzt gerade? Es geht um den unmittelbaren Kontakt. Was passiert zwischen mir und dir, genau in dieser Sekunde? Spüre ich Nähe? Spüre ich Abneigung? Und darf die Abneigung auch da sein?
Ein faszinierendes Konzept aus den Unterlagen ist der Umgang mit Konflikten oder „Schatten“, wie es dort etwas dramatisch heißt. In unserer höflichen Gesellschaft sind Konflikte Fehler im System. Wenn wir uns streiten, ist etwas schiefgelaufen. Wir entschuldigen uns, wir glätten die Wogen, wir trinken Tee. Im We Space werden Konflikte betrachtet. Wenn ich wütend auf jemanden werde, sagt das etwas über mich aus. Vielleicht überschreitet er eine Grenze. Vielleicht erinnert er mich an meinen Mathelehrer. Anstatt die Wut runterzuschlucken, wird sie – im Idealfall – kommuniziert. Nicht als Angriff („Du Idiot!“), sondern als Selbstoffenbarung („Ich merke, dass ich gerade richtig wütend werde, wenn du so redest“).
Das klingt riskant. Und das ist es auch. Es ist soziales Bungee-Jumping ohne das Seil der gesellschaftlichen Konventionen. Aber genau deshalb fühlt es sich so lebendig an.
Die Wissenschaft der Resonanz (Warum wir es brauchen)
Warum tun wir uns das an? Warum bleiben wir nicht auf dem Sofa? Weil unser Gehirn, dieses drei Pfund schwere Walnuss-Imitat, zutiefst sozial verdrahtet ist. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass soziale Ausgrenzung im Gehirn dieselben Areale aktiviert wie körperlicher Schmerz. Einsamkeit tut buchstäblich weh. Aber – und das ist der entscheidende Punkt – bloße Anwesenheit von anderen Menschen heilt die Einsamkeit nicht. Man kann in einer überfüllten U-Bahn stehen oder auf einem Rockkonzert sein und sich trotzdem vollkommen isoliert fühlen.
Einsamkeit verschwindet nicht durch Gesellschaft. Sie verschwindet durch Resonanz. Resonanz bedeutet: Ich sende ein Signal aus (ein Gefühl, einen Gedanken), und es kommt etwas zurück, das mir zeigt: „Ich habe dich gehört. Ich sehe dich.“ Das muss keine Zustimmung sein. Es kann auch Widerspruch sein. Aber es muss eine Reaktion sein, die auf mich als Person bezogen ist.
In unserer digitalen Welt haben wir diese Resonanz durch „Likes“ und Herzchen ersetzt. Aber das ist Junk-Food für die Seele. Ein Like kostet nichts. Es ist eine Millisekunde Aufmerksamkeit. Echte Resonanz, wie sie im We Space praktiziert wird, kostet Zeit und Mut. Sie erfordert, dass ich mich zeige, auch wenn ich vielleicht albern aussehe. Und sie erfordert, dass der andere wirklich hinschaut, anstatt schon die Antwort im Kopf zu formulieren.
Das Ende des ersten Abends
Als der Abend zu Ende ging, passierte etwas Merkwürdiges. Ich fühlte mich erschöpft, aber auf eine gute Art. So wie man sich nach einer langen Wanderung fühlt, nicht wie nach einem Tag im Büro. Ich hatte in diesen zwei Stunden mehr über den Mann im grauen Pullover erfahren als über manche Kollegen, mit denen ich seit zehn Jahren zusammenarbeite. Ich wusste nicht, wo er wohnte oder was er wählte. Aber ich wusste, wie er sich fühlt, wenn er unsicher ist. Und ich hatte gelernt, dass meine eigene Angst, verurteilt zu werden, zu 90 Prozent in meinem Kopf stattfand. Die anderen waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigene Angst zu managen, um meine zu beurteilen.
Ich zog meine Schuhe wieder an. Sie fühlten sich etwas enger an als vorher, oder vielleicht waren meine Füße vor Erleichterung geschwollen. Ich verließ den Raum, der nicht nach Weihrauch roch, und trat hinaus in die kühle Nachtluft. Mein Smartphone vibrierte in der Tasche. Wahrscheinlich eine E-Mail, eine Nachricht, ein Update. Die digitale Welt forderte ihre Aufmerksamkeit zurück. Aber für einen Moment ließ ich es stecken. Ich dachte an das „Ich-Wir-Pendel“. Ich war jetzt wieder ganz im „Ich“. Ich freute mich auf mein Sofa, auf mein Buch und vielleicht auf das Stück Cheddar im Kühlschrank. Aber ich wusste jetzt, dass es da draußen einen Ort gibt, an dem das „Wir“ keine Bedrohung ist, sondern eine Option. Ein Ort, an dem man üben kann, Mensch zu sein, ohne dass man dafür perfekt sein muss.
Die We Space Gemeinschaft, so dämmerte es mir, macht tatsächlich etwas verdammt richtig. Sie bauen keine neuen Kirchen und keine neuen Therapieschulen. Sie bauen Übungsplätze für das Menschliche. Sie schreiben eine DNA für ein soziales Miteinander, das wir irgendwo zwischen der Erfindung der Dampfmaschine und der Einführung des iPhones verloren haben.
Und das Verrückteste daran? Es funktioniert. Man muss nur bereit sein, ab und zu die Schuhe auszuziehen und zu riskieren, dass man eine Antwort bekommt, wenn man fragt: „Wie geht es dir?“
Aber dazu mehr im nächsten Kapitel. Denn wie ich bald lernen sollte, ist der Anfang leicht. Das eigentliche Abenteuer beginnt erst, wenn die erste Euphorie verflogen ist und man feststellt, dass auch erleuchtete Menschen manchmal einfach nur nervig sind.
Kapitel 2: Die Architektur der Unbehaglichkeit (oder: Wie man richtig im Kreis sitzt)
Es gibt im Leben eines jeden vernunftbegabten Menschen Momente, in denen er sich fragt, warum er eine funktionierende Strategie der Konfliktvermeidung zugunsten eines Experiments aufgibt, dessen Ausgang bestenfalls ungewiss und schlimmstenfalls „berührend“ ist.
Mein zweiter Besuch im „We Space“ war ein solcher Moment. Die Woche zwischen dem ersten und dem zweiten Treffen hatte ich größtenteils damit verbracht, meinem Spiegelbild zu versichern, dass ich völlig normal sei und keine „tieferen Verbindungen“ benötige. Ich habe Freunde. Ich habe eine Familie. Ich habe einen Briefträger, der mich namentlich grüßt (obwohl er mich beharrlich „Mrs. Byson“ nennt, was wie ein Staubsauger klingt). Wozu also zurückkehren in diesen Kreis aus Stühlen und Erwartungen?
Die Antwort ist, so fürchte ich, die menschliche Neugier. Oder Masochismus. Die Grenzen sind fließend. Zudem hatte ich in den Unterlagen der Gruppe – dieser ominösen „DNA“, von der ich bereits berichtete – etwas gelesen, das mich irritierte. Dort stand: „Diese Gruppe ist ein lebendiger Organismus.“ Nun, als Hobby-Biologin weiß ich, dass „lebendige Organismen“ dazu neigen, schleimig zu sein, sich unkontrolliert zu teilen oder einen zu beißen, wenn man sie reizt. Ein Vereinssatzung ist Papier. Papier beißt nicht. Eine „DNA“ hingegen… das klang nach etwas, das man besser im Auge behält.
Also ging ich wieder hin.
Die Ordnung der Dinge (Ein historischer Exkurs)
Bevor wir den Raum betreten, lassen Sie uns kurz über Regeln sprechen. Der Mensch liebt Regeln. Sobald sich drei Homo sapiens um ein Feuer versammelten, dauerte es vermutlich keine zehn Minuten, bis einer von ihnen vorschlug, ein Protokoll zu führen und einen Kassenwart zu ernennen. Die Geschichte der menschlichen Versammlung ist eine Geschichte des Versuchs, das Chaos der Interaktion zu bändigen. Im 19. Jahrhundert schenkte uns Henry Martyn Robert die „Robert’s Rules of Order“, ein Handbuch für parlamentarische Verfahren, das so trocken ist, dass es vermutlich Feuchtigkeit aus der Atmosphäre saugt. Roberts Ziel war es, dass in Versammlungen „die Minderheit gehört wird und die Mehrheit entscheidet“. Das Ergebnis sind meist Sitzungen, in denen niemand gehört wird und alle einschlafen.
In Deutschland, dem Land, das den Verein zur Kunstform erhoben hat, gibt es das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Wenn Sie einen Kaninchenzüchterverein gründen wollen, sagt Ihnen das BGB genau, wie viele Vorstandsmitglieder Sie brauchen, damit die Kaninchen rechtssicher gezüchtet werden können. Der Zweck all dieser Regeln ist Sicherheit durch Starre. Wir bauen ein Korsett aus Paragrafen, damit uns die menschliche Natur – diese unberechenbare Mischung aus Emotionen, Egos und Missverständnissen – nicht um die Ohren fliegt.
Der We Space macht genau das Gegenteil. Er nutzt Regeln, um Unsicherheit zu ermöglichen. Das klingt kontraproduktiv, ist aber, wie ich an diesem Abend lernen sollte, ziemlich genial. Die „DNA“ der Gruppe dient nicht dazu, Verhalten zu verhindern, sondern es zu ermutigen.
Der Hüter und der Host: Eine Doppelspitze der anderen Art
Als ich den Raum betrat, bemerkte ich sofort eine Veränderung. Die Stühle standen wieder im Kreis (natürlich), aber die Energie war anders. Felix, einer der Gründer, erklärte das Konzept der Rollenverteilung. Und hier wurde es für meinen angelsächsischen Verstand, der an klare Hierarchien gewöhnt ist (Boss oben, Arbeiter unten, Praktikantin ganz unten beim Kaffee), kompliziert.
Es gibt im We Space keine Anführer im klassischen Sinne. Es gibt keine „Alpha-Tiere“, die den Ton angeben. Stattdessen gibt es zwei funktionale Rollen, die für jeden Abend neu besetzt oder zumindest klar definiert werden: den Host und den Hüter.
Der Host (Gastgeber) ist die Mutter der Kompanie. In der Sammlung wird seine Rolle fast zärtlich beschrieben. Er sorgt für den physischen Raum. Er kümmert sich darum, dass wir nicht frieren, dass Wasser da ist und dass wir pünktlich anfangen. Er ist der Rahmen des Gemäldes. Ohne ihn fällt die Leinwand um. Seine Haltung ist die der „Einladung“. Er sagt: „Komm rein, es ist sicher hier.“
Der Hüter hingegen ist eine Figur, die mich faszinierte. Er ist der Wächter der Prinzipien. Wenn der Host die Mutter ist, ist der Hüter… nein, nicht der strenge Vater. Eher der aufmerksame Gärtner mit der Heckenschere. Seine Aufgabe ist es, die „DNA“ der Gruppe im Blick zu behalten. Stellen Sie sich vor, wir sitzen im Kreis und driften in sinnloses Geplauder über Immobilienpreise ab (eine der großen Gefahren moderner Zusammenkünfte). Der Hüter ist derjenige, der sanft interveniert. Nicht, indem er schreit: „Ruhe!“, sondern indem er uns daran erinnert, warum wir hier sind. In der Sammlung heißt es: „Der Hüter achtet auf die Einhaltung der vereinbarten Prozessstruktur… Er ist die Instanz, die interveniert, wenn wir unbewusst in alte Muster fallen.“
Das ist eine undankbare Aufgabe. Niemand mag den Typen, der auf die Regeln pocht. Aber im We Space ist der Hüter kein Polizist, der Strafzettel verteilt. Er ist eher wie ein Navigationssystem, das sagt: „Bitte wenden“, wenn wir in eine Sackgasse der Oberflächlichkeit gefahren sind.
Der Check-in: Mehr als nur „Wie geht’s?“
Der Abend begann mit einem Ritual, das in der Knowledgebase als „Check-in“ bezeichnet wird. In der normalen Welt ist die Frage „Wie geht es dir?“ eine phatische Kommunikation. Das bedeutet, sie hat keinen Inhalt. Sie dient nur dazu, den Kanal zu öffnen. Die einzig gesellschaftlich akzeptierte Antwort lautet: „Gut, und dir?“ oder, wenn man sehr verwegen ist: „Muss ja.“ Würde man antworten: „Nun, mein Hämorrhoidenleiden ist zurück und ich verspüre eine existenzielle Leere angesichts der Endlichkeit des Universums“, würde der Gesprächspartner vermutlich rückwärts aus dem Raum stolpern.
Im We Space ist der Check-in jedoch ernst gemeint. Die Anleitung in der Sammlung ist spezifisch. Es geht nicht um eine Geschichte („Gestern war ich einkaufen…“). Es geht um drei Ebenen:
Körper: Was spüre ich physisch? (Druck im Magen, kalte Füße, Jucken am linken Ohrläppchen).
Gefühle: Welche Emotion ist gerade da? (Angst, Freude, Langeweile, Wut).
Gedanken: Was geht mir durch den Kopf? (Bin ich kritisch? Bewerte ich die anderen?).
Als die Reihe an mir war, geriet ich in Panik. Mein Körper? Er saß auf einem Stuhl. Mein Gefühl? Eine Mischung aus „Was mache ich hier?“ und „Hoffentlich rieche ich nicht nach Zwiebeln“. Meine Gedanken? Ich dachte darüber nach, ob Pinguine Knie haben (haben sie übrigens, sie sind nur im Gefieder versteckt). Ich räusperte mich. „Ich… ähm… mein Rücken ist etwas verspannt“, log ich, obwohl es stimmte. „Ich fühle mich… skeptisch. Und neugierig.“ Die anderen nickten. Niemand lachte. Niemand sagte: „Skeptisch? Raus hier!“ Es war erstaunlich befreiend. Indem ich meine Skepsis ausgesprochen hatte, verlor sie ihre Macht über mich. Sie war jetzt einfach im Raum, wie ein Möbelstück, über das man nicht mehr stolpern musste, weil man wusste, wo es stand.
Das Initiativeprinzip: Die Tyrannei der Freiheit
Nach dem Check-in entstand eine Stille. Ich wartete darauf, dass der Host sagt: „So, jetzt machen wir Übung 4B auf Seite 12.“ Aber nichts passierte. Wir saßen einfach da. Eine Minute verging. Dann zwei. Jemand hustete. Ich sah Felix an. Er lächelte entspannt und schien seine eigenen Schuhe sehr interessant zu finden.
Hier stießen wir auf das Herzstück der We Space Philosophie, ein Konzept, das in der Sammlung als das „Initiativeprinzip“ bezeichnet wird. Es ist vielleicht die radikalste Idee des ganzen Unternehmens. Das Prinzip besagt: „Du bist zu 100% für dein eigenes Erleben verantwortlich.“
In der Schule, im Büro, sogar im Urlaub sind wir es gewohnt, konsumiert zu werden. Der Lehrer sagt, was wir lernen. Der Chef sagt, was wir arbeiten. Der Reiseleiter sagt, wo die Sehenswürdigkeit ist. Wir sind Passagiere in unserem eigenen Leben. Im We Space gibt es keinen Reiseleiter. Wenn mir langweilig ist, ist das mein Problem. Und meine Aufgabe, es zu ändern. Wenn ich mich einsam fühle, ist es meine Aufgabe, Kontakt aufzunehmen. Wenn ich wütend bin, ist es meine Aufgabe, das auszudrücken (oder auch nicht).
Die Knowledgebase erklärt, dass dieses Prinzip aus dem Improvisationstheater stammt. Auf der Bühne passiert nichts, wenn niemand ein Angebot macht. Wenn zwei Schauspieler auf der Bühne stehen und warten, dass der andere etwas Lustiges sagt, wird das Publikum sehr schnell sehr unruhig. Im Leben ist es genauso. Wir warten oft jahrelang darauf, dass uns jemand „abholt“, dass uns jemand versteht, dass uns jemand rettet. Das Initiativeprinzip ist der sanfte Tritt in den Hintern, der uns sagt: „Niemand kommt. Mach es selbst.“
Die Stille im Raum wurde fast körperlich spürbar. Es war nicht die angenehme Stille einer Bibliothek. Es war eine „Druck-Stille“. Der Druck der Freiheit. Jede im Raum wusste: Wenn ich will, dass etwas passiert, muss ich es initiieren. Aber wenn ich etwas initiiere, zeige ich mich. Ich mache mich sichtbar. Und Sichtbarkeit ist gefährlich.
Schließlich brach eine Frau namens Sabine das Schweigen. „Ich merke, dass mich diese Stille nervös macht“, sagte sie. „Ich habe das Bedürfnis, dass wir etwas tun.“ „Was möchtest du denn tun?“ fragte der Hüter (nicht Felix, sondern eine Frau mit sehr wachen Augen). „Ich weiß nicht. Reden?“ „Worüber?“ „Über… darüber, warum wir Angst vor der Stille haben.“
Und zack. Wir waren mittendrin. Es war kein geplantes Thema. Es stand auf keiner Agenda. Es entstand aus dem Moment, aus dem Unbehagen einer einzelnen Person, die den Mut hatte, Verantwortung für ihr Unbehagen zu übernehmen. Das, so begriff ich langsam, ist der Unterschied zwischen „Konsum“ und „Kreation“. In den meisten sozialen Situationen konsumieren wir Gemeinschaft. Hier kreierten wir sie.
Verschachtelung und Fokus (oder: Warum wir nicht durcheinander reden)
Das Gespräch entwickelte sich. Aber es war kein normales Gespräch. Kennen Sie diese Dinnerpartys, bei denen drei Gespräche gleichzeitig laufen, jemand dazwischenruft, um nach dem Salz zu fragen, und am Ende niemand mehr weiß, worum es eigentlich ging? Im We Space herrscht eine andere Physik. Die Knowledgebase nennt es „Fokus“ oder manchmal „Verschachtelung“ (obwohl der Begriff in der aktuellen Sammlung etwas eleganter umschrieben wird). Die Idee ist: Es gibt immer nur einen Fokus im Raum. Wenn Sabine spricht, hören alle Sabine zu. Wenn jemand auf Sabine reagieren will, bleibt der Fokus bei Sabine. Wir eröffnen keinen neuen Thread, bevor der alte nicht geschlossen ist.
Das erfordert Disziplin. Mein Gehirn, trainiert durch Jahre des Multitaskings und der Twitter-Aufmerksamkeitsspanne, wollte ständig dazwischenspringen. „Oh, Stille, dazu fällt mir eine Anekdote über John Cage ein!“ Aber ich hielt den Mund. Weil der Hüter aufpasste. Als ein Mann – nennen wir ihn Thomas, den Mann im grauen Pullover aus Kapitel 1 – versuchte, das Thema zu wechseln („Das erinnert mich an meinen Urlaub in Spanien…“), hob der Hüter sanft die Hand. „Thomas, bleibst du damit bei Sabine, oder machst du ein neues Fass auf?“ Thomas stutzte. „Äh… es ist eigentlich was Neues.“ „Können wir erst bei Sabine bleiben, bis sie sich gehört fühlt?“ Thomas nickte. Er war nicht beleidigt. Er war reguliert.
Das klingt strikt, fast militärisch. Aber der Effekt war verblüffend. Weil Sabine wusste, dass niemand das Thema wechseln würde, bis sie fertig war, konnte sie tiefer gehen. Sie musste sich nicht beeilen. Sie musste nicht unterhaltsam sein, um die Aufmerksamkeit zu behalten. Sie hatte den Raum. Wir erschufen eine Art „Container“ (noch so ein Wort aus der DNA), in dem ein Gedanke wirklich zu Ende gedacht und gefühlt werden konnte.
Die Anatomie der Vitalität
Warum tun wir das? Warum dieser Aufwand? Die Antwort findet sich in einem Abschnitt der Sammlung, der über „Vitalität“ spricht. Vitalität – Lebendigkeit – entsteht nicht durch Harmonie. Sie entsteht durch Kontakt. Und Kontakt ist oft Reibung. In unserer höflichen Gesellschaft vermeiden wir Reibung. Wir sind nett zueinander. Wir lächeln, auch wenn uns der andere langweilt. Wir sagen „Ja“, wenn wir „Nein“ meinen. Das Ergebnis ist eine soziale Interaktion, die so glatt und reibungslos ist wie eine Teflonpfanne – an der aber auch nichts haften bleibt. Keine echte Verbindung.
Der We Space sucht die „optimale Reibung“. Nicht Streit um des Streits willen. Sondern die Reibung, die entsteht, wenn zwei unterschiedliche Menschen ihre Wahrheit sagen, ohne sie weichzuspülen. Wenn ich sage: „Ich bin gelangweilt von dem, was du sagst“, ist das im normalen Leben eine Beleidigung. Im We Space ist es eine „Information über mich“. Es ist ein Angebot zur Klärung. Vielleicht langweile ich mich, weil ich nicht richtig zuhöre. Vielleicht langweile ich mich, weil der andere eine Maske trägt und nicht authentisch ist. Indem ich es ausspreche (natürlich unter Beachtung der „Ich-Botschaften“ – ein Konzept, das in den 70ern populär wurde und hier eine Renaissance erlebt), gebe ich dem anderen die Chance, darauf zu reagieren.
An diesem Abend gab es einen solchen Moment. Ein Teilnehmer erzählte eine sehr lange, sehr detaillierte Geschichte über seine Arbeitsprobleme. Ich spürte, wie meine Augenlider schwer wurden. Ich sah mich im Geiste schon auf meinem Sofa. Dann sagte jemand: „Ich merke, dass ich abschalte. Ich verliere den Kontakt zu dir, wenn du so technisch redest. Ich würde lieber wissen, wie es dir damit geht, nicht, wie die Excel-Tabelle aussieht.“
Stille. Schock. In jedem anderen Kontext wäre der Erzähler jetzt beleidigt aufgestanden und gegangen. Hier atmete er tief durch. Seine Schultern sanken nach unten. „Ehrlich gesagt“, sagte er leise, „langweile ich mich selbst mit der Geschichte. Ich erzähle sie nur, weil ich nicht weiß, wie ich sagen soll, dass ich Angst habe, meinen Job zu verlieren.“
Bumm. Die Energie im Raum änderte sich schlagartig. Von „langweiligem Büro-Talk“ zu „existenzielle Angst“. Plötzlich waren alle wach. Plötzlich war Resonanz da. Das war der Moment, in dem ich das Prinzip der „Vitalität“ verstand. Wir hatten die höfliche Oberfläche durchbrochen und waren auf Gold gestoßen.
Das Soziale Nervensystem
Die Knowledgebase bietet hierzu einen faszinierenden theoretischen Unterbau, der sich auf die Polyvagal-Theorie stützt (keine Sorge, ich werde das nicht im Detail ausführen, sonst schlafen wir alle ein). Vereinfacht gesagt: Unser Nervensystem scannt permanent die Umgebung nach Sicherheit. Wenn wir uns unsicher fühlen, gehen wir in den „Kampf-oder-Flucht“-Modus (Säbelzahntiger) oder in den „Totstell-Reflex“ (Maus vor Schlange). Die meisten sozialen Interaktionen in der modernen Welt finden im „Totstell-Reflex“ statt. Wir sind da, aber wir sind nicht wirklich da. Wir funktionieren. Wir lächeln höflich. Wir sind innerlich taub.
Der We Space versucht, einen Zustand zu erzeugen, den man „Social Engagement System“ nennt. Ein Zustand wacher Entspannung, in dem Verbindung möglich ist. Dazu braucht es zwei Dinge:
Sicherheit: Ich muss wissen, dass mich niemand angreift (dafür sorgt der Host und die DNA).
Aktivierung: Ich muss mich zeigen, etwas riskieren (dafür sorgt das Initiativeprinzip).
Es ist ein Tanz auf dem Seil. Zu viel Sicherheit, und wir schlafen ein (Kuschelparty). Zu viel Aktivierung, und wir geraten in Panik (Fight Club). Der We Space balanciert genau dazwischen.
Mein eigener kleiner Ausbruch
Gegen Ende des Abends spürte ich, wie das „Initiativeprinzip“ an mir nagte. Ich hatte den ganzen Abend beobachtet, analysiert, innerlich kommentiert. Ich war die distanzierte Beobachterin geblieben, die Ethnologin im Dschungel der Gefühle. Aber die DNA sagt: „Es gibt keine Zuschauer.“ Wenn ich nur zusehe, bin ich ein Parasit der Energie der anderen.
Also tat ich etwas, das für eine Britin (oder zumindest jemanden mit britischer Seele) zutiefst widernatürlich ist. Ich unterbrach eine harmonische Runde. Alle waren gerade sehr glückselig und nickten sich zu. „Ich…“, fing ich an. Meine Stimme klang kratzig. „Ich fühle mich gerade etwas außen vor. Und ich glaube, ich bewerte das hier alles als etwas zu… sentimental.“
Es war raus. Ich hatte das Wort „sentimental“ benutzt. In einer Gruppe, die Gefühle feiert. Das war, als würde man im Steakhouse laut „Veganer!“ rufen. Die Frau mit den wachen Augen (die Hüterin) schaute mich an. „Danke, Billy“, sagte sie. Danke? „Danke, dass du das reinbringst. Es macht das Bild vollständiger. Ein Teil von uns ist skeptisch. Das darf da sein.“
Ich war verblüfft. Kein Gegenangriff. Keine Rechtfertigung. Meine Skepsis wurde nicht bekämpft, sie wurde integriert. Sie wurde als Teil des Gruppenkörpers akzeptiert. Und in dem Moment, als meine Kritik willkommen geheißen wurde, verflog sie zur Hälfte. Ich musste nicht mehr gegen die „Sentimentalität“ ankämpfen, weil ich nicht mehr ausgeschlossen war. Ich war jetzt der „skeptische Teil des Wirs“. Das war eine Rolle, die ich spielen konnte.
Die Heimkehr (und der Muskelkater)
Als ich an diesem Abend nach Hause ging, fühlte ich mich anders als beim ersten Mal. Beim ersten Mal war ich erleichtert gewesen, überlebt zu haben. Diesmal war ich nachdenklich. Ich dachte über die Architektur unserer Gesellschaft nach. Wir bauen Häuser, um uns vor dem Wetter zu schützen. Wir bauen Gesetze, um uns vor Verbrechen zu schützen. Und wir bauen Höflichkeit, um uns vor der Wahrheit zu schützen.
Der We Space reißt die Mauern der Höflichkeit ein, aber er tut dies nicht anarchisch. Er ersetzt die starren Mauern durch flexible Membranen. Durch Regeln wie das Initiativeprinzip, den Hüter, den Check-in. Es ist eine Architektur, die nicht auf Sicherheit durch Abstand setzt, sondern auf Sicherheit durch Kontakt.
Ich lag auf meinem Sofa – diesem herrlichen, weichen, unkritischen Sofa – und starrte an die Decke. Ich hatte heute Abend gelernt, dass ich für meine Langeweile selbst verantwortlich bin. Das war eine unbequeme Wahrheit. Es ist viel einfacher, dem Gastgeber die Schuld zu geben, wenn die Party mies ist. Aber es ist auch eine ermächtigende Wahrheit. Wenn ich für meine Langeweile verantwortlich bin, bin ich auch für meine Freude verantwortlich. Ich bin kein Opfer der Umstände. Ich bin die Co-Autorin des Augenblicks.
Die Sammlung spricht davon, dass wir lernen müssen, uns selbst zu „regulieren“. Nicht, indem wir Gefühle unterdrücken, sondern indem wir sie in Kontakt bringen. Es ist wie Muskeltraining. Wir haben den „Begegnungsmuskel“ verkümmern lassen. Wir haben soziale Rollatoren (Smartphones, Smalltalk) benutzt, statt selbst zu laufen. Der We Space ist das Fitnessstudio. Und ich hatte, metaphorisch gesprochen, ziemlichen Muskelkater.
Aber – und das überraschte mich am meisten – ich freute mich schon auf das nächste Training. Denn im nächsten Kapitel, so ahnte ich, würden wir uns mit dem beschäftigen, was passiert, wenn die Dinge wirklich schiefgehen. Wenn das Pendel zu weit ausschlägt. Wenn aus „Wir“ ein „Ich gegen Dich“ wird. Wir würden uns den Schattenseiten widmen. Und wenn Billy Buchholz eines liebt, dann sind es dunkle Ecken, in denen man vielleicht eine interessante Anekdote – oder ein Monster – findet.
Bis dahin aber: Hand aufs Herz (oder auf den Magen, wenn Sie Hunger haben) und fragen Sie sich: Wie geht es mir gerade wirklich? Und wenn die Antwort „beschissen“ lautet – herzlichen Glückwunsch. Sie sind am Leben.
Kapitel 3: Der Elefant trägt Jogginghosen (oder: Warum wir uns streiten müssen, um uns zu mögen)
Es gibt ein faszinierendes psychologisches Phänomen, das Wissenschaftler als den „Flitterwochen-Effekt“ bezeichnen. Es beschreibt jene kurze, gnädige Zeitspanne zu Beginn einer neuen Erfahrung – sei es eine Ehe, ein neuer Job oder der Kauf eines Brotbackautomaten –, in der alles wunderbar, makellos und voller Hoffnung erscheint. Das Brot schmeckt nach Freiheit, der neue Kollege wirkt kompetent, und der Partner scheint tatsächlich zuzuhören, wenn man über die Geschichte der südenglischen Schafzucht referiert.
Doch wie jeder weiß, der schon einmal länger als zwei Wochen einen Brotbackautomaten besessen hat, ist dieser Zustand nicht von Dauer. Irgendwann wird das Brot klumpig, der Kollege fängt an, Fisch in der Mikrowelle aufzuwärmen, und der Partner fragt, ob man „vielleicht mal kurz still sein kann“. In der Gruppenpsychologie nennt man diesen unvermeidlichen Absturz die „Storming-Phase“. Nach dem anfänglichen „Forming“ (wir beschnuppern uns und finden alle nett) kommt der Sturm. Die Masken rutschen ein wenig, die Höflichkeit bekommt Risse, und man stellt fest, dass der Typ im grauen Pullover nicht nur „interessant still“ ist, sondern auch sehr laut atmet.
Ich betrat den We Space an meinem dritten Abend mit einer vagen Vorahnung. Die ersten beiden Male waren berauschend gewesen. Wir hatten uns geöffnet, wir waren authentisch, wir waren – ich wage es kaum zu sagen – fast schon glücklich. Aber meine innere Zynikerin, eine kleine Frau in meinem Kopf, die aussieht wie Winston Churchill an einem schlechten Tag (fragen Sie nicht), flüsterte mir zu: „Warte nur ab, Billy. Gleich kommt der Haken.“
Und sie sollte recht behalten. Denn heute Abend stand ein Thema auf der unsichtbaren Tagesordnung, das in der Knowledgebase der Gruppe unter dem ominösen Begriff „Schattenarbeit“ geführt wird. Wenn Sie jetzt an schwarze Magie oder dubiose Jungianer in Samtumhängen denken, liegen Sie falsch. Aber nur knapp.
Eine kurze Geschichte der Höflichkeit (und warum sie uns umbringt)
Bevor wir uns dem Gemetzel – metaphorisch gesprochen – widmen, lohnt ein Blick darauf, warum wir Konflikte so sehr hassen. Die menschliche Zivilisation ist im Grunde ein 10.000 Jahre langes Projekt zur Vermeidung von direkter Konfrontation. Im viktorianischen England, der Hochburg der verklemmten Lippen, gab es Bücher über Etikette, die dicker waren als die Bibel. Darin wurde haarklein geregelt, wie man jemanden beleidigt, ohne tatsächlich ein böses Wort zu sagen (meist durch das Nicht-Anbieten von Gurkensandwiches oder das subtile Heben einer Augenbraue).
Wir haben gelernt, dass „nett sein“ der Klebstoff der Gesellschaft ist. Wenn Tante Erna fragt, ob uns ihr trockener Rührkuchen schmeckt, sagen wir: „Köstlich, Erna!“, während wir versuchen, nicht an den Krümeln zu ersticken. Wir tun das, um den sozialen Frieden zu wahren. In der DNA des We Space wird dieser Ansatz jedoch radikal hinterfragt. Dort steht sinngemäß, dass Höflichkeit oft nichts anderes ist als „soziales Schmiermittel“, das verhindert, dass wir uns wirklich berühren. Wenn alles glatt ist, rutschen wir aneinander ab. Echte Verbindung braucht Kanten. Sie braucht Reibung.
Das Problem ist nur: Reibung erzeugt Hitze. Und Hitze kann verbrennen. Die We Space Philosophie behauptet, dass eine Gruppe, die keine Konflikte hat, keine echte Gruppe ist, sondern eine Ansammlung von Schauspielern, die ein Stück namens „Harmonie“ aufführen. Und wie ich heute Abend lernen sollte, hatte unser Ensemble genug vom Schauspielern.
Die Harmonie-Soße (Ein kulinarisches Desaster)
Der Abend begann harmlos. Der Check-in (Körper, Gefühle, Gedanken) plätscherte dahin. Alle waren „müde aber froh“, „gespannt“, „präsent“. Doch dann passierte es. Eine Teilnehmerin, nennen wir sie „Luna“ (ich bin mir sicher, sie hieß anders, aber sie trug einen Schal, der aussah wie eine Galaxie, daher passt der Name), ergriff das Wort. Luna war eine jener Personen, die man in solchen Kreisen oft trifft: strahlend, unerschütterlich positiv und mit einer Stimme, die so sanft war, dass man sich sofort in eine Decke wickeln wollte.
„Ich spüre heute so viel Liebe in diesem Raum“, sagte Luna und legte die Hände auf ihr Herz. „Ich habe das Gefühl, wir sind alle eins. Es gibt keine Trennung. Eure Schmerzen sind meine Schmerzen, und eure Freude ist meine Freude. Es ist alles Licht.“ Sie lächelte in die Runde, ein Lächeln von der Wattstärke eines Leuchtturms. Normalerweise würden in einer solchen Situation alle anderen nicken, vielleicht ein „Mmmh“ der Zustimmung brummen und sich denken: Schön für sie.
Aber wir waren hier nicht beim Kaffeekränzchen. Wir waren im We Space. Und wir hatten die „DNA“ gelesen. In der Knowledgebase gibt es einen Abschnitt über „Spiritual Bypassing“ oder, wie Felix es manchmal nannte: „Die Harmonie-Soße drüberkippen“. Es beschreibt den Versuch, unangenehme Gefühle durch eine vorzeitige Flucht in spirituelle Konzepte zu vermeiden. Anstatt den Konflikt zu spüren, sagt man: „Wir sind alle eins“, und wischt das Problem vom Tisch.
Ich beobachtete den Raum. Thomas (der Mann im grauen Pullover) rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Sein Gesicht hatte eine Farbe angenommen, die irgendwo zwischen „Plaume“ und „Ziegelstein“ lag. Das Initiativeprinzip hing wie ein Damoklesschwert über uns. Du bist für dein Erleben verantwortlich. Wenn Thomas jetzt nichts sagte, würde er platzen. Und biologisch gesehen ist ein platzender Mensch eine ziemliche Sauerei.
Der Ausbruch (oder: Thomas zieht den Stöpsel)
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. „Ich…“, begann Thomas, und seine Stimme war so laut, dass ich zusammenzuckte. „Ich kann das nicht mehr hören.“ Luna blinzelte. Ihr Leuchtturm-Lächeln flackerte kurz. „Was meinst du, Thomas?“ „Dieses… Gerede von ‚Wir sind alle eins‘. Das stimmt doch nicht!“ Er gestikulierte wild. „Ich fühle mich überhaupt nicht ‚eins‘ mit dir. Im Gegenteil. Wenn du so redest, fühle ich mich meilenweit entfernt. Es klingt für mich… künstlich. Es klingt wie eine Postkarte, nicht wie ein Mensch.“
Stille. Totale, entsetzte Stille. In der normalen Welt wäre das der Moment gewesen, in dem der Gastgeber sagt: „Wer möchte noch Wein?“ und alle so tun, als wäre nichts passiert. Aber hier passierte etwas anderes. Der „Hüter“ (heute Abend ein Mann namens Martin, der aussah wie ein pensionierter Mathelehrer) lehnte sich vor. „Okay“, sagte Martin ruhig. „Da ist viel Energie.“ Er wandte sich an Thomas. „Du bist wütend.“ „Ja, verdammt!“, rief Thomas. „Weil es sich unecht anfühlt! Es ist wie Zuckerguss auf einem verschimmelten Kuchen!“
Martin nickte. Er wirkte weder erschrocken noch wollte er Thomas beruhigen. „Und Luna“, wandte er sich an die Galaxie-Frau. „Was passiert bei dir, wenn du das hörst?“ Luna sah aus, als hätte man ihr gerade ihren Welpen weggenommen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Das tut weh“, flüsterte sie. „Ich wollte doch nur meine Liebe teilen. Dass das als ‚unecht‘ abgetan wird… das macht mich traurig. Und auch wütend.“
„Gut“, sagte Martin. „Wir haben Wut und wir haben Trauer. Das ist echt. Damit können wir arbeiten.“
Schattenboxen: Die Theorie dahinter
Hier müssen wir kurz pausieren, um zu verstehen, was gerade geschah. In der Knowledgebase wird das Konzept des „Schattens“ erläutert, das ursprünglich von C.G. Jung stammt. Der Schatten ist all das, was wir an uns selbst nicht sehen wollen oder können. Es ist der Rucksack, den wir hinter uns herziehen. In diesem Rucksack stecken unsere Gier, unser Neid, unsere Aggression, aber auch unsere Bedürftigkeit.
Wenn wir jemanden treffen, der Eigenschaften zeigt, die wir in unserem eigenen Rucksack versteckt haben, reagieren wir oft allergisch. Wir projizieren unseren Schatten auf den anderen. Das nennt man „Projektion“. Ein einfaches Beispiel: Wenn ich mir selbst verbiete, faul zu sein, werde ich extrem wütend auf Menschen, die entspannt auf dem Sofa liegen. Nicht, weil sie etwas Böses tun, sondern weil sie mich an meinen eigenen, unterdrückten Wunsch nach Faulheit erinnern.
Im Fall von Thomas und Luna passierte vermutlich Folgendes: Luna repräsentierte das „Licht“, die „Harmonie“, das „Eins-Sein“. Thomas repräsentierte den „Realismus“, die „Trennung“, den „Zweifel“. Beide sind Teile der menschlichen Erfahrung. Aber wenn sie aufeinanderprallen, entsteht ein Blitz.
In der Sammlung des We Space gibt es eine Regel für solche Momente: „Konflikte sind keine Fehler im System, sie sind Informationen über das System.“ Wenn Thomas wütend ist, dann nicht nur, weil Luna nervt. Sondern weil in der Gruppe (dem „Wir“) eine Spannung zwischen Idealismus und Realismus besteht, die bisher nicht ausgesprochen wurde. Thomas und Luna wurden, ohne es zu wissen, zu den Schauspielern dieses inneren Konflikts.
Der Container muss halten
Zurück in den Kreis. Die Luft knisterte. Ich persönlich hatte den starken Impuls, mich unter meinem Stuhl zu verkriechen und so zu tun, als wäre ich ein Teppichmuster. Konflikte machen mir Angst. Ich bin Britin. Wir lösen Konflikte, indem wir Briefe an die „Times“ schreiben, nicht indem wir uns anschreien. Aber ich blieb sitzen.
Der Hüter, Martin, tat nun etwas Entscheidendes. Er verlangsamte das Geschehen. „Thomas“, sagte er. „Kannst du mal schauen, was genau dich so wütend macht? Ist es wirklich nur Luna? Oder ist da noch etwas anderes?“ Thomas atmete schwer. Er starrte auf den Boden. „Es ist…“, er stockte. „Ich fühle mich hier oft so… ungenügend. Alle reden so toll über ihre Gefühle. Und ich sitze hier und fühle mich einfach nur leer und grau. Und wenn dann jemand sagt ‚Alles ist Licht‘, dann fühle ich mich, als wäre ich falsch. Als wäre mein Grau nicht willkommen.“
Aha! Der Schatten war aus dem Sack. Es ging gar nicht um Luna. Es ging um Thomas‘ Gefühl der Unzulänglichkeit. Er hatte Lunas Licht als Angriff auf seinen eigenen grauen Zustand empfunden. Luna hörte zu. Ihre Tränen trockneten langsam. „Ich wollte nicht, dass du dich falsch fühlst“, sagte sie leise. „Ich… ich rede oft so positiv, weil ich Angst vor dem Dunklen habe. Wenn ich zulasse, dass es nicht ‚Licht‘ ist, dann habe ich Angst, in ein Loch zu fallen. Meine Positivität ist mein Schutz.“
Und zack. Der zweite Schatten war da. Lunas „Licht“ war gar keine Erleuchtung, sondern eine Verteidigungsstrategie gegen ihre eigene Depression. Plötzlich waren Thomas und Luna keine Feinde mehr. Sie waren zwei Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit derselben Sache kämpften: der Angst vor der Leere. Thomas bekämpfte sie mit Zynismus, Luna mit spirituellem Glitzer.
Die Integration (oder: Wie man den Elefanten umarmt)
Was dann geschah, war einer dieser Momente, für die man in solche Gruppen geht. Die Spannung im Raum veränderte sich. Sie wandelte sich von „heiß und aggressiv“ zu „warm und traurig“. Das ist die Alchemie des We Space. Indem die Schatten benannt wurden, verloren sie ihre zerstörerische Kraft. Solange Thomas dachte, Luna sei eine „falsche Heuchlerin“, musste er sie bekämpfen. Sobald er verstand, dass sie Angst hatte, konnte er sie sehen.
In der Knowledgebase wird das als „Integration“ bezeichnet. Wir versuchen nicht, den einen Pol (den Zyniker) gegen den anderen (die Lichtgestalt) gewinnen zu lassen. Wir versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem beides wahr sein darf. Das „Wir“ muss groß genug sein für Lunas Licht UND Thomas‘ Grau.
Martin, der Hüter, schaute in die Runde. „Wie geht es den anderen damit?“ fragte er. Ich spürte, wie das Initiativeprinzip mich in die Rippen stieß. „Ich…“, krächzte ich. „Ich kenne beides. Ich habe einen inneren Thomas, der alles für Bullshit hält. Und ich habe eine innere Luna, die einfach nur will, dass alle sich lieb haben.“ Einige lachten. Es war ein erleichtertes Lachen. „Der Elefant im Raum“, sagte ich und deutete vage in die Mitte, „trägt Jogginghosen. Er ist nicht elegant. Er ist chaotisch. Aber er gehört uns.“
Polarisierung als Treibstoff
Ein Konzept, das mir Felix später beim Tee (es gibt immer Tee, Gott sei Dank) erklärte, ist das der „Polarisierung“. In jeder Gruppe bilden sich Pole. Einer übernimmt die Rolle des Pünktlichen, einer die des Chaoten. Einer ist der Kopf, einer das Herz. Das Problem entsteht, wenn wir uns mit diesen Rollen identifizieren. „Ich bin der Vernünftige, du bist der Emotionale.“ Dann bekämpfen wir uns. Im We Space versuchen wir, diese Rollen „flüssig“ zu machen. Indem Thomas zugab, dass er sich unsicher fühlt, verließ er die Rolle des harten Zynikers. Indem Luna ihre Angst zugab, verließ sie die Rolle der unantastbaren Heiligen.
Sie trafen sich in der Mitte. In der Verletzlichkeit. Das klingt furchtbar kitschig, ich weiß. Wenn ich das in einem Roman lesen würde, würde ich das Buch quer durchs Zimmer werfen. Aber wenn man dabei ist, fühlt es sich an wie Physik. Es ist, als würde man zwei Magnete, die sich abstoßen, plötzlich umdrehen, und klack – sie ziehen sich an.
Die Gefahr der „Brave Space“
Ein Begriff, der in der DNA der Gruppe auftaucht, ist der Unterschied zwischen „Safe Space“ (Sicherer Raum) und „Brave Space“ (Mutiger Raum). Ein „Safe Space“ verspricht: Dir wird hier nichts passieren. Du wirst nicht verletzt. Ein „Brave Space“ verspricht: Hier darfst du Risiken eingehen. Du wirst vielleicht verletzt, aber wir sind da, um dich aufzufangen.
Der heutige Abend war definitiv ein „Brave Space“. Es war riskant für Thomas, seine Wut zu zeigen. Er hätte abgelehnt werden können. Es war riskant für Luna, ihre Fassade fallen zu lassen. Sie hätte ausgelacht werden können. Dass beides nicht passierte, lag an der Struktur, die wir in den Wochen zuvor aufgebaut hatten. An der „Inneren Sicherheit“, von der ich in Kapitel 1 schrieb. Wir hatten genug Vertrauen auf dem Konto, um diese Abhebung zu verkraften.
Aber es zeigt auch die Gefahr solcher Gruppen. Wenn dieser Konflikt am ersten Abend passiert wäre, wäre die Gruppe vermutlich explodiert. Die Sammlung warnt davor, zu früh zu tief zu gehen. Man muss den Muskel erst trainieren, bevor man das schwere Gewicht hebt.
Billy Buchholzs Fazit: Die Schönheit des Drecks
Als ich nach Hause ging, regnete es. Ein typischer, nasskalter Nieselregen, der einem in den Kragen kriecht. Normalerweise hätte ich geflucht. Aber heute Abend dachte ich: Das ist echt. Der Regen ist nass. Er ist unangenehm. Er ist keine „flüssige Sonne“ und kein „Segen des Himmels“. Er ist einfach nur kaltes Wasser. Und das war okay.
Ich hatte gelernt, dass Gemeinschaft nicht bedeutet, dass immer die Sonne scheint. Gemeinschaft bedeutet, dass man zusammen im Regen steht und sich nicht gegenseitig dafür verantwortlich macht, dass man nass wird. Thomas und Luna hatten sich nicht umarmt und ewige Freundschaft geschworen. Am Ende des Abends saßen sie immer noch auf gegenüberliegenden Seiten des Kreises. Aber der Blickkontakt war anders. Er war… respektvoll. Wie zwei Soldaten, die auf verschiedenen Seiten gekämpft haben, aber anerkennen, dass der andere mutig war.
Wir leben in einer Welt, die süchtig nach Hygiene ist. Wir wollen saubere Straßen, saubere Lebensmittel und saubere Gefühle. Wir desinfizieren unsere Hände und unsere Seelen. Aber Leben ist nicht sauber. Leben ist Blut, Schweiß, Tränen und gelegentlich ein Wutanfall über spirituelles Geschwafel. Der We Space ist kein steriles Labor. Er ist eine Werkstatt. Und in einer Werkstatt macht man sich die Hände schmutzig.
Ich schaute auf meine Hände. Sie sahen sauber aus. Aber innerlich fühlte ich mich herrlich verdreckt. Verdreckt mit der Realität menschlicher Emotionen. Ich wusste, dass das nächste Kapitel noch schwieriger werden würde. Denn wenn man erst einmal angefangen hat, den Keller aufzuräumen, findet man Dinge, die man dort vor Jahren vergessen hat. Leichen im Keller? Vielleicht nicht ganz. Aber sicherlich ein paar sehr peinliche Tagebücher.
Und da war noch etwas in der Knowledgebase, das ich bisher überlesen hatte. Ein Kapitel über „Intimität und Nähe“. Ich schauderte. Wut war eine Sache. Aber Nähe? Echte Nähe? Das war der wahre Endgegner für eine Britin.
Aber dazu mehr im nächsten Kapitel. Jetzt musste ich erst einmal nach Hause und meinem Brotbackautomaten erklären, dass es nicht seine Schuld ist, dass das Brot nichts geworden ist. Es war eine Projektion meiner eigenen Unfähigkeit. Sehen Sie? Ich lerne dazu.
Kapitel 4: Der Tanzbereich des Stachelschweins (oder: Bitte berühren Sie nicht das Exponat)
Arthur Schopenhauer, der fröhliche Philosoph aus Danzig, der vermutlich nie auf einer Party eingeladen wurde, weil er dort nur in der Ecke gesessen und den Untergang des Abendlandes prophezeit hätte, erzählte einmal eine Parabel über Stachelschweine. An einem kalten Wintertag, so Schopenhauer, drängen sich eine Gruppe Stachelschweine zusammen, um sich aneinander zu wärmen. Doch kaum spüren sie die Wärme des Nachbarn, spüren sie auch dessen Stacheln. Der Schmerz treibt sie wieder auseinander. Die Kälte treibt sie wieder zusammen. Und so pendeln die armen Tierchen ihr Leben lang zwischen Erfrieren und Erstochenwerden hin und her, bis sie eine mäßige Distanz gefunden haben, in der sie es gerade so aushalten.
Ich dachte an diesem Dienstagabend sehr intensiv an Schopenhauer. Denn heute stand im We Space das Thema „Nähe und Kontakt“ auf dem Programm. Für eine Britin (oder eine im Herzen britische Amerikanerin) ist das Wort „Nähe“ ähnlich alarmierend wie „Wurzelbehandlung“ oder „Schienenersatzverkehr“. Wir haben Jahrhunderte damit verbracht, eine Kultur zu perfektionieren, die auf der Vermeidung von unaufgefordertem Kontakt basiert. Der Händedruck wurde erfunden, um zu beweisen, dass man keine Waffe trägt, nicht um Zuneigung auszudrücken. Der Regenschirm dient in London nicht nur als Schutz vor Nässe, sondern auch als mobiles Abstandshaltewerkzeug, um Menschen in der U-Bahn auf Distanz zu halten.
Und nun saß ich hier, in diesem Raum, der immer noch verdächtig gut roch, und fürchtete mich vor dem Moment, in dem jemand sagen würde: „Jetzt suchen wir uns einen Partner und schauen uns vier Minuten lang tief in die Augen.“
Die Wissenschaft der unsichtbaren Blase
Bevor wir zu den schrecklichen Ereignissen des Abends kommen, müssen wir einen kurzen Ausflug in die Wissenschaft der Proxemik machen. In den 1960er Jahren fand der Anthropologe Edward T. Hall heraus, dass jeder Mensch in einer unsichtbaren Blase lebt. Er definierte vier Zonen:
Die intime Zone (0 bis 45 cm): Hierhin dürfen nur Liebhaber, Kinder und Ringer. Wenn ein Fremder hier eindringt, schüttet unser Körper sofort Adrenalin aus. Wir bereiten uns auf Kampf oder Flucht vor.
Die persönliche Zone (45 bis 120 cm): Das ist der Bereich für Cocktailpartys und Gespräche mit Freunden. Man kann sich riechen, aber nicht beißen.
Die soziale Zone (120 bis 360 cm): Hier stehen wir beim Bäcker oder reden mit dem Klempner.
Die öffentliche Zone (über 360 cm): Das ist der Abstand, den man zu einem Politiker hält, wenn man keine faulen Eier werfen will.
Das Problem mit dem We Space ist, dass er diese Zonen durcheinanderbringt. Wir saßen im Kreis, was technisch gesehen „soziale Zone“ ist, aber wir redeten über Dinge (Wut, Angst, Einsamkeit), die eigentlich in die „intime Zone“ gehören. Das Gehirn ist verwirrt. Der Mann da drüben ist drei Meter entfernt, aber ich weiß, dass er Angst vor dem Sterben hat. Soll ich weglaufen oder ihn umarmen?
Keine Kuschelparty (Ein wichtiges Dementi)
Die DNA des We Space unterscheidet strikt zwischen „Verschmelzung“ (Fusion) und „Begegnung“ (Encounter). Verschmelzung ist der Versuch, eins zu werden. Es ist der Wunsch des Säuglings, wieder in den Mutterleib zu kriechen. Es ist warm, es ist sicher, aber es ist auch regressiv. Man löst sich auf. Begegnung hingegen braucht Zweiheit. Um dir zu begegnen, muss ich hier sein und du musst dort sein. Und dazwischen muss Luft sein. Felix, einer der Gründer, drückte es so aus: „Wir wollen nicht ineinander verschwinden. Wir wollen voreinander stehen bleiben und den Abgrund dazwischen aushalten.“
Das klang beruhigend. Zumindest theoretisch.
Das Experiment: Die Grenze spüren
Der Abend begann nicht mit Reden. Er begann mit Bewegung. Wir sollten durch den Raum gehen. „Spürt eure Füße auf dem Boden“, sagte die heutige Hüterin, eine Frau namens Sarah, die eine Ausstrahlung hatte wie eine sehr kompetente Hebamme. „Nehmt den Raum ein.“ Wir schlurften umher wie Zombies in einem Einkaufszentrum. „Und jetzt“, sagte Sarah, „achtet mal auf eure Grenzen. Wenn ihr jemandem entgegenkommt: Wann spürt ihr, dass es zu nah ist?“
Das war interessant. Ich ging auf Luna zu (die Dame mit dem Galaxie-Schal aus dem letzten Kapitel). Sie strahlte mich an. Mein inneres Radar schlug bei etwa zwei Metern Alarm. Stopp! Zu viel Licht! Gefahr der emotionalen Erblindung! Ich wich aus. Dann ging ich auf Thomas zu. Bei ihm war es anders. Sein „Feld“ wirkte dichter, fast abweisend. Ich blieb schon bei drei Metern stehen, nicht aus Angst vor Nähe, sondern aus Respekt vor seiner offensichtlichen Unlust, gestört zu werden.
Dann kam die eigentliche Übung. „Findet einen Partner“, sagte Sarah. Panik. Das Schulhof-Trauma. Werde ich als Letzte gewählt? Aber im We Space gibt es keine Wahl. Man nimmt den, der gerade da steht. Vor mir stand Brigitte. Brigitte war neu. Sie war klein, drahtig und hatte Augen, die aussahen, als könnten sie durch Bleiplatten sehen. Sie wirkte wie eine pensionierte Bibliothekarin, die in ihrer Freizeit Kampfsport betreibt. „Hallo“, sagte sie. „Hallo“, sagte ich.
„Die Übung geht so“, erklärte Sarah. „Person A steht still. Person B geht langsam auf sie zu. Person A spürt in sich hinein. Sobald Person A merkt: ‚Hier ist meine Grenze, hier ist es genug‘, hebt sie die Hand und sagt ‚Stopp‘. Person B bleibt sofort stehen.“
Klingt einfach. Ist es aber nicht. Wir sind darauf konditioniert, höflich zu sein. Wenn jemand auf uns zukommt, bleiben wir stehen, bis er uns die Nase abbeißt, nur um nicht unhöflich zu wirken. Ein „Stopp“ zu sagen, während der andere noch zwei Meter entfernt ist, fühlt sich an wie eine Beleidigung. „Du stinkst, bleib weg!“
Die Macht des NEIN
Brigitte war Person A. Ich war Person B. Ich ging auf sie zu. Langsam. Drei Meter. Zwei Meter. Eins fümfzig. Sie starrte mich an. Kein Blinzeln. Ein Meter. Ich wurde nervös. Warum sagt sie nichts? Will sie mich in den Schwitzkasten nehmen? Fünfzig Zentimeter. Ich konnte riechen, dass sie Pfefferminztee getrunken hatte. „Stopp“, sagte sie. Ich fror ein. Ich stand so nah, dass ich ihre Wimpern zählen konnte. „Wie ist das für dich, Brigitte?“ fragte Sarah in den Raum. Brigitte dachte nach. „Eigentlich war meine Grenze schon vor einem Meter erreicht. Aber ich habe mich nicht getraut, es zu sagen.“ „Aha“, sagte Sarah. „Und wie fühlt es sich jetzt an?“ „Bedrängend. Ich will einen Schritt zurückgehen.“ „Dann tu das.“ Brigitte trat einen großen Schritt zurück. Sie atmete tief aus. „Besser.“
Dann tauschten wir. Ich stand da. Brigitte, die kleine Kampfmaschine, kam auf mich zu. Drei Meter. Zwei Meter. Mein Magen zog sich zusammen. Stopp, dachte ich. Aber mein Mund blieb zu. Wenn ich jetzt Stopp sage, denkt sie, ich mag sie nicht. Sie kam näher. Stopp! Sie kam noch näher. Schließlich, als sie etwa einen Meter entfernt war, hob ich zaghaft die Hand. „Stopp.“ Sie blieb stehen. „War das deine echte Grenze?“ fragte sie. Ihre Röntgenaugen musterten mich. „Nein“, gab ich zu. „Die war früher.“ „Warum hast du nichts gesagt?“ „Ich wollte nicht unhöflich sein.“
Brigitte schnaubte. Ein verächtliches, wunderbares Schnauben. Billy“, sagte sie. „Wenn du nicht ‚Stopp‘ sagst, kann ich dir nicht vertrauen.“ Der Satz traf mich wie ein nasser Waschlappen ins Gesicht. Wie bitte? „Wenn ich nicht weiß, wo deine Grenze ist“, erklärte sie, „muss ich ständig raten. Ich muss Angst haben, dich zu überrollen. Das ist anstrengend. Wenn du klar ‚Stopp‘ sagst, bin ich sicher. Dann weiß ich: Okay, bis hierhin und nicht weiter. Dann kann ich mich entspannen.“
Das war eine Offenbarung. In der Knowledgebase steht ein Satz dazu: „Ein klares Nein macht das Ja erst wertvoll.“ Wenn ich nicht Nein sagen kann, ist mein Ja wertlos. Es ist nur ein Ja aus Angst oder Anpassung. Indem ich eine Grenze setze, schaffe ich Sicherheit für beide. Ich schütze meinen Raum, und ich entlaste den anderen von der Aufgabe, Gedankenleser zu spielen. Grenzen trennen nicht. Grenzen schaffen den Raum, in dem Begegnung überhaupt erst möglich wird. Ohne Grenzen sind wir nur Suppe.
Rücken an Rücken (Das blinde Vertrauen)
Nachdem wir also gelernt hatten, Menschen wie Verkehrspolizisten anzuhalten, kam der nächste Schritt. „Setzt euch Rücken an Rücken auf den Boden“, sagte Sarah. Ich setzte mich wieder zu Brigitte. Wir setzten uns auf den Boden (das Parkett war überraschend warm, vermutlich Fußbodenheizung, ein Zivilisationsgewinn, den ich sehr schätze). Wir lehnten unsere Rücken aneinander. Das ist eine merkwürdige Position. Man sieht den anderen nicht. Man spürt nur die Wirbelsäule, die Schulterblätter, die Wärme. Der Rücken ist unser ungeschützter Bereich. Evolutionär gesehen ist das der Ort, an dem der Tiger angreift. Jemanden an seinen Rücken zu lassen, ist ein Akt des Urvertrauens.
„Schließt die Augen“, sagte Sarah. „Und jetzt versucht nicht, etwas zu tun. Spürt nur. Spürt den Atem des anderen.“ Ich spürte Brigittes Rücken. Er war fest und gerade. Ich spürte, wie sich ihre Rippen weiteten, wenn sie einatmete. Es war intim, aber nicht sexuell. Es war eher… biologisch. Es war die Erkenntnis: Da ist ein anderes Lebewesen. Eine andere Maschine aus Fleisch, Blut und Hoffnung, die genauso Luft braucht wie ich.
Ich merkte, wie sich mein eigener Atem dem ihren anpasste. Wir synchronisierten uns, ohne es zu wollen. Mein neurotisches Gehirn, das sonst ständig plappert (Habe ich den Herd ausgemacht? Was ist eigentlich der Plural von Globus?), wurde still. Der Fokus lag nur auf diesem Kontaktpunkt zwischen meinen Schulterblättern und ihren. Es war, als ob wir durch den Rücken kommunizierten. Ich bin hier. Ich bin auch hier. Du fällst nicht um, weil ich dich stütze. Ich falle nicht um, weil du mich stützt.
In der Sammlung wird dies als „Co-Regulation“ beschrieben. Unser Nervensystem ist keine isolierte Einheit. Es ist ein offenes System, das sich am Nervensystem anderer orientiert. Wenn ich nervös bin und jemand Ruhiges neben mir sitzt (oder hinter mir), fährt mein System herunter. Wir sind wie WLAN-Router, die sich ständig gegenseitig Signale schicken. Lange Zeit dachte die Psychologie, der Mensch müsse lernen, sich selbst zu beruhigen (Selbstregulation). Der We Space Ansatz sagt: Das ist nur die halbe Wahrheit. Wir sind Herdentiere. Wir beruhigen uns am besten aneinander.
Der Hauthunger und das digitale Fasten
Später, in der großen Runde, sprachen wir über das Experiment. Viele waren bewegt. Ein großer, bärtiger Mann weinte leise. „Ich habe seit zwei Jahren niemanden mehr so berührt“, sagte er. „Außer beim Händeschütteln oder in der U-Bahn aus Versehen.“ Wir leben in einer Gesellschaft des Berührungsmangels. Man nennt das „Skin Hunger“ (Hauthunger). Wir wischen über Bildschirme, wir tippen auf Tastaturen, aber wir spüren keine Wärme. Und wenn wir Berührung erleben, ist sie oft sexualisiert. Es gibt kaum noch Räume für platonische, nährende Berührung. Männer dürfen sich auf die Schulter klopfen, wenn ihre Fußballmannschaft gewinnt. Frauen dürfen sich zur Begrüßung umarmen. Aber einfach nur Rücken an Rücken sitzen und atmen? Das gilt als „weird“.
Der We Space versucht, diese Lücke zu füllen. Nicht durch Orgien (sorry, falls Sie jetzt enttäuscht sind), sondern durch achtsame, absichtslose Nähe. Das Wort „Absichtslosigkeit“ ist hier der Schlüssel. Wenn ich jemanden berühre, um ihn ins Bett zu kriegen, ist das eine Strategie. Wenn ich jemanden berühre, um ihn zu trösten, ist das eine Hilfeleistung. Wenn ich jemanden berühre, nur um zu spüren, dass er da ist, ist das Begegnung.
Die Angst vor dem „Too Much“
Natürlich gab es auch Widerstand. Thomas (mein Freund im grauen Pullover, der sich langsam zum Barometer der Gruppe entwickelte) meldete sich. „Mir war das zu nah“, sagte er. „Ich saß da mit jemandem, und ich hatte Panik. Ich wollte weg.“ „Und was hast du gemacht?“ fragte Sarah. „Nichts. Ich habe es ausgehalten.“ „Warum?“ „Weil ich die Übung nicht kaputt machen wollte.“
Sarah lächelte traurig. „Thomas, die Übung war nicht das Sitzen. Die Übung war das Spüren. Wenn du Panik hattest, war das Sitzen falsch. Du hättest aufstehen müssen. Oder zumindest ein Stück wegrücken.“ „Darf man das?“ „Das ist das Initiativeprinzip. Du bist für dich verantwortlich. Wenn du dich opferst, um die ‚Harmonie‘ zu wahren, betrügst du dich und deinen Partner. Dein Partner saß an einem Rücken, der vor Panik vibrierte. Glaubst du, das war für ihn angenehm?“
Thomas schluckte. „Vermutlich nicht.“ „Eben. Echte Nähe entsteht nur in Freiheit. Wenn du nicht weggehen darfst, ist das Bleiben kein Geschenk, sondern ein Gefängnis.“
Das war der Satz des Abends. Wenn du nicht weggehen darfst, ist das Bleiben kein Geschenk. Ich dachte an all die langweiligen Partys, auf denen ich geblieben war, um höflich zu sein. An die Gespräche, die ich geführt hatte, obwohl ich innerlich schrie. Ich hatte gedacht, ich sei nett. In Wirklichkeit war ich eine Gefangene meiner eigenen Erziehung. Im We Space übten wir, die Gefängnistür aufzuschließen. Manchmal bedeutet Nähe eben auch: „Ich brauche jetzt Abstand.“ Und das ist okay. Das ist sogar notwendig. Denn nur wenn ich weggehen kann, kann ich auch wirklich zurückkommen.
Ein Moment der Stille
Am Ende des Abends saßen wir wieder im Kreis. Aber der Kreis fühlte sich anders an. Er war „dichter“. Wir hatten uns nicht viel erzählt. Ich wusste immer noch nicht, was Brigitte beruflich machte (vermutlich Geheimagentin) oder ob der bärtige Mann verheiratet war. Aber ich hatte ihre Grenzen gespürt. Und ich hatte ihre Wärme gespürt. Das schuf eine Art von Verbindung, die tiefer ging als Worte. Worte können lügen. Ein Rücken, der sich im Atemrhythmus hebt und senkt, kann nicht lügen.
Ich schaute in die Runde und fühlte mich seltsam… wach. Normalerweise bin ich um 21:30 Uhr bereit für mein Bett und ein Buch über die Geschichte der Salzgewinnung. Aber jetzt war mein „Soziales Nervensystem“ aktiviert. Ich war im Modus des „sicheren Spiels“. Ich fühlte mich nicht einsam. Aber ich fühlte mich auch nicht vereinnahmt. Ich war Billy, mit meiner eigenen Blase, aber diese Blase war durchlässig geworden.
Buchholz’sches Fazit: Die Biologie der Hoffnung
Ich verließ das Gebäude und trat in die Nacht. Die Stadt war laut und anonym wie immer. Ein Taxi hupte, jemand schrie in ein Handy. Aber ich trug etwas mit mir. Ein körperliches Gedächtnis an Ruhe. Ich hatte gelernt, dass wir Menschen wie Stachelschweine sind, ja. Aber wir haben einen Vorteil gegenüber den Stachelschweinen: Wir können reden. Wir können sagen: „Aua, deine Stacheln pieksen. Rück mal zwei Zentimeter nach links.“ Und wir können lernen, unsere Stacheln einzuziehen, wenn wir uns sicher fühlen.
Der We Space, so schien es mir, war ein Trainingslager für Stachelschweine, die das Kuscheln lernen wollen, ohne sich dabei umzubringen. Es ist riskant. Man wird gepiekst. Man tritt in Fettnäpfchen. Man muss „Stopp“ sagen zu kleinen, drahtigen Frauen, die Brigitte heißen. Aber die Alternative – allein in der Kälte zu sitzen und zu erfrieren – ist keine wirkliche Option.
In meiner Tasche vibrierte mein Telefon. Eine Nachricht von meinem Verleger. „Wie läuft das Buch?“ Ich tippte zurück: „Es wird kompliziert. Ich habe gerade mit einer Fremden Rücken an Rücken geatmet. Und es war weniger schrecklich, als es klingt.“
Im nächsten Kapitel, so wusste ich aus der Sammlung, würde es um den Transfer in den Alltag gehen. Wie nimmt man diese fragile, im Labor gezüchtete Pflanze der Nähe und pflanzt sie in den harten Betonboden des normalen Lebens, wo Chefs schreien, Kinder quengeln und niemand Zeit für einen „Check-in“ hat? Kann der We Space überleben, wenn er den geschützten Raum verlässt? Oder ist es wie mit Urlaubsbekanntschaften, die man zu Hause plötzlich gar nicht mehr so sympathisch findet?
Das würde der eigentliche Test werden. Denn am Ende des Tages nützt die schönste Erleuchtung nichts, wenn man sie nicht benutzen kann, um den Müll rauszubringen, ohne sich über den Partner zu ärgern.
Ich ging zur U-Bahn. Als ich einstieg, war der Waggon voll. Ich quetschte mich in eine Ecke. Ein Mann stand viel zu nah an mir. Er roch nach Döner und altem Regen. Mein Reflex war Ekel. Dann atmete ich tief ein. Ich spürte meinen Rücken an der kalten Metallwand. Ich spürte meine Grenze. Das ist mein Raum, dachte ich. Und das ist dein Raum. Ich lächelte den Mann kurz an. Er sah mich verwirrt an, als hätte ich ihm gerade einen toten Fisch angeboten. Aber das war egal. Ich hatte meine Blase nicht verschlossen. Ich hatte sie nur definiert. Und für einen kurzen Moment, zwischen den Stationen „Waterloo“ und „Embankment“, war ich nicht allein. Ich war Teil eines großen, stinkenden, wunderbaren Haufens von Stachelschweinen, die alle nur versuchten, irgendwie warm zu bleiben.
Kapitel 5: Der Kater der Erleuchtung (oder: Wie man einem Toaster seine Gefühle erklärt)
Es gibt einen Zustand, der in medizinischen Lehrbüchern leider völlig vernachlässigt wird, obwohl er genauso schwächend ist wie eine mittelschwere Grippe oder der Versuch, ein IKEA-Regal namens „Gjörb“ ohne Anleitung aufzubauen. Ich nenne diesen Zustand den „Erleuchtungs-Kater“.
Er tritt meist am Morgen nach einer tiefgreifenden, emotionalen Erfahrung auf. Sie wachen auf, die Vögel zwitschern (oder streiten sich lautstark um einen Wurm, je nach Perspektive), und Sie fühlen sich… nun ja, verletzlich. Nackt. Wie eine Krabbe, die gerade ihren Panzer abgeworfen hat und nun hofft, dass niemand mit einer Gabel vorbeikommt. Nach meinem vierten Abend im We Space, an dem ich mit der stoischen Brigitte Rücken an Rücken geatmet hatte, wachte ich mit genau diesem Gefühl auf. Ich fühlte mich weich. Ich fühlte mich verbunden mit dem Kosmos. Ich hatte das dringende Bedürfnis, die Menschheit zu umarmen.
Dieses Bedürfnis hielt genau so lange an, bis ich in die Küche kam und feststellte, dass jemand (ich werde keine Namen nennen, aber wir sind nur zu zweit im Haus) die leere Milchpackung zurück in den Kühlschrank gestellt hatte. Sofort war der Kosmos vergessen. Sofort war die Menschheit mir egal. Ich wollte Rache. Ich wollte Gerechtigkeit. Ich wollte Milch.
Der Zusammenprall der Welten
Hier stehen wir vor dem zentralen Problem jeder Selbsterfahrungsgruppe, sei es Yoga, Zen-Meditation oder eben der We Space: Das „Labor“ funktioniert anders als die „Wildnis“. Im We Space gibt es einen „Host“, der den Raum hält. Es gibt einen „Hüter“, der aufpasst, dass niemand unterbrochen wird. Es gibt Regeln wie das „Initiativeprinzip“ und die „Gewaltfreie Kommunikation“. In meiner Küche gibt es das alles nicht. In meiner Küche herrscht das Gesetz des Dschungels, oder zumindest das Gesetz desjenigen, der zuerst am Kühlschrank ist.
In der DNA wird dieses Dilemma durchaus angesprochen. Dort heißt es sinngemäß, dass der We Space ein „Übungsfeld“ ist. Man trainiert dort Muskeln (den Wahrnehmungsmuskel, den Grenzensetz-Muskel), die man dann „draußen“ anwenden soll. Das klingt in der Theorie fantastisch. Man stellt sich vor, wie man als eine Art emotionale Jedi-Ritterin durch den Alltag schreitet, Konflikte mit einer Handbewegung befriedet und cholerische Busfahrer durch bloßes Atmen beruhigt. Die Realität sieht leider anders aus. Die Realität ist, dass man versucht, „achtsam“ zu sein, während der Rest der Welt einfach nur versucht, pünktlich zur Arbeit zu kommen.
Experiment 1: Der Check-in am Frühstückstisch
Ich beschloss dennoch, mein neues Wissen anzuwenden. Ich würde ein „Tribe Starter“ sein (ein Begriff aus der Knowledgebase, der so viel bedeutet wie: Fang einfach an, verdammt noch mal). Mein Mann saß am Tisch und las die Zeitung. Er sah sehr konzentriert aus, was normalerweise ein Zeichen dafür ist: „Sprich mich nicht an, bevor ich meinen zweiten Kaffee hatte.“ Aber ich war ja jetzt eine neue Billy. Eine verbundene Billy. Ich setzte mich ihm gegenüber, atmete tief in den Bauch (wie Sarah es gezeigt hatte) und sagte mit sanfter Stimme: „Guten Morgen, Liebling. Bevor wir in den Tag starten… magst du einen kleinen Check-in machen?“
Er senkte die Zeitung langsam. Sein Blick war nicht unfreundlich, aber er enthielt eine gewisse Dosis Skepsis, die man nach Jahrzehnten des Zusammenlebens mit einer exzentrischen Autorin entwickelt. „Einen was?“ „Einen Check-in. Nur kurz. Drei Ebenen: Körper, Gefühle, Gedanken. Wie bist du gerade da?“ Er starrte mich an. Dann schaute er auf seinen Kaffee. Dann wieder zu mir. „Mein Körper möchte Koffein“, sagte er trocken. „Mein Gefühl ist leichte Irritation. Und mein Gedanke ist: Hat Billy vergessen, dass heute Müllabfuhr ist?“
Autsch. In der Sprache des We Space war das eine „Grenzsetzung“. In der Sprache der Ehe war es eine Abfuhr. „Ich versuche nur, Verbindung herzustellen“, sagte ich etwas beleidigt (Verletzung des Initiativeprinzips: Ich machte ihn für mein Gefühl verantwortlich). Billy“, seufzte er. „Das ist sehr süß. Aber ich bin nicht deine Encounter-Gruppe. Ich bin dein Mann. Und der Müll stinkt.“
Lektion 1: Der Kontext ist alles. Man kann nicht einfach We-Space-Regeln auf Menschen werfen, die nicht zugestimmt haben, mitzuspielen. Das ist, als würde man versuchen, Tennisregeln beim Fußball anzuwenden und den Ball in die Hand zu nehmen. Man wird ausgepfiffen.
Ein historischer Exkurs: Die Erfindung der Privatsphäre
Warum fällt uns dieser Transfer so schwer? Warum ist es so peinlich, im Alltag über Gefühle zu reden? Historisch betrachtet ist die Idee, dass das „wahre Ich“ verborgen bleiben muss, relativ neu. Im Mittelalter lebten die Menschen in einer Art dauerhafter Öffentlichkeit. Man schlief in einem Raum mit zehn anderen, man aß aus einer Schüssel, man verrichtete seine Notdurft oft in beunruhigender Nähe zu Zuschauern. Privatsphäre gab es nicht. Man war transparent, ob man wollte oder nicht.
Erst mit dem Aufstieg des Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert erfanden wir den Flur (um Zimmer zu trennen) und die Etikette (um Menschen zu trennen). Wir bauten Mauern aus Stein und aus Höflichkeit. Wir lernten, dass es „unfein“ ist, zu viel von sich zu zeigen. Der britische Anthropologe Geoffrey Gorer bemerkte einmal, dass die Engländer so reserviert sind, weil sie Angst haben, dass, wenn sie einmal anfangen zu reden, sie nie wieder aufhören können. Wir sind ein Vulkan unter einer sehr dicken Schicht aus Tweed und Sarkasmus.
Der We Space versucht, diese Jahrhunderte der Konditionierung rückgängig zu machen. Aber mein Versuch am Frühstückstisch zeigte: Die Konditionierung ist stark. Und manchmal ist sie auch nützlich. Vielleicht will ich gar nicht wissen, wie sich der Postbote auf der Ebene „Körper, Gefühl, Gedanken“ fühlt, wenn er mir nur ein Paket gibt.
Experiment 2: Der Supermarkt der Schatten
Nachdem ich den Müll rausgebracht hatte (ein Akt der Demut), ging ich zum Supermarkt. Supermärkte sind faszinierende Orte. Sie sind Kathedralen des Konsums, in denen wir alle demselben Ritual folgen: Wir schieben Wagen, wir starren auf Regale, und wir vermeiden jeden Blickkontakt. Im We Space hatte ich gelernt: „Kontakt ist Nahrung.“ Also beschloss ich, mich im Supermarkt zu ernähren. Emotional, meine ich.
Ich schob meinen Wagen durch den Gang mit den Frühstücksflocken. Ein Mann stand vor den Müslisorten und wirkte unentschlossen. Normalerweise würde ich einen Bogen um ihn machen. Heute blieb ich stehen. Ich spürte meine Füße auf dem Boden. Ich öffnete mein Herz (metaphorisch). Ich schaute ihn an. Ich wollte ihm ein stummes Signal der Solidarität senden: „Kamerad, ich sehe deinen Kampf zwischen Schoko-Knusper und Vollkorn-Gesundheit.“
Der Mann bemerkte meinen Blick. Er zuckte zusammen. Er griff hastig nach dem teuersten Granola und schob seinen Wagen schnell weg. Er dachte vermutlich, ich sei eine Ladendetektivin oder eine Irre. Lektion 2: Ungewohnte Nähe wird im öffentlichen Raum als Bedrohung interpretiert. Die Knowledgebase spricht von „Social Engagement System“. Damit dieses System anspringt, muss das Gegenüber sich sicher fühlen. Wenn ich einen Fremden im Müsli-Gang anstarre, erzeuge ich keine Sicherheit. Ich erzeuge das Bedürfnis nach Pfefferspray.
Die Theorie der „Angebotsgemeinschaft“
Ich zog mich, etwas entmutigt, in die Abteilung für Tiefkühlgemüse zurück (dort ist es kühl, das beruhigt die Nerven). Ich holte mein Smartphone heraus und scrollte durch die Sammlung. Ich suchte nach einer Erklärung für mein Scheitern. Ich fand das Konzept der „Angebotsgemeinschaft“. Dort steht: „Wir machen Angebote. Wir zwingen niemanden.“
Das war der Schlüssel. Im We Space haben sich alle geeinigt, Angebote anzunehmen. Draußen haben sie das nicht. Wenn ich draußen Verbindung will, muss ich ein Angebot machen, das so niedrigschwellig ist, dass der andere nicht stolpert. Intensives Anstarren ist kein niedrigschwelliges Angebot. Es ist eine emotionale Nötigung. Ein Lächeln? Vielleicht. Ein freundliches „Guten Tag“? Schon besser.
Ich beschloss, meine Strategie zu ändern. Ich würde nicht versuchen, „tief“ zu sein. Ich würde versuchen, „menschlich“ zu sein. An der Kasse saß eine Frau, die aussah, als würde sie seit 1974 dort sitzen und denselben Kaugummi kauen. Sie scannte meine Waren mit einer mechanischen Gleichgültigkeit, die fast schon meditativ war. Beep. Beep. Beep. Früher hätte ich auf mein Handy gestarrt. Heute schaute ich sie an. Nicht starr, sondern weich. Als ich bezahlte, sagte ich nicht das übliche „Danke, Tschüss“. Ich sagte: „Ich hoffe, Sie haben nachher noch einen schönen Feierabend. Der Tag ist ja grau genug.“
Sie hielt inne. Ihre Hand schwebte kurz über der Kasse. Sie schaute auf. Für eine Sekunde brach die Maske der Kassiererin auf. Ich sah Müdigkeit, aber auch ein Aufblitzen von Überraschung. „Danke“, sagte sie. Und ihre Stimme war nicht mechanisch. Sie war warm. „Das hoffe ich auch. Dauert noch zwei Stunden.“ „Dann wünsche ich Ihnen gute zwei Stunden“, sagte ich. Sie lächelte. Ein echtes, kleines Lächeln, das ihre Augen erreichte. „Danke. Ihnen auch.“
Ich ging hinaus. Ich fühlte mich wie Kolumbus, der gerade Amerika entdeckt hat. Nur dass Amerika in diesem Fall ein kurzes Lächeln in einem Supermarkt in Surrey war. Es war keine tiefe Seelenverschmelzung. Wir hatten nicht Rücken an Rücken geatmet. Aber es war ein Moment des Kontakts. Ich hatte ein Angebot gemacht. Sie hatte es angenommen. Das „Ping“ war zurückgekommen.
Das innere Pendel: Ich und Wir im Stau
Auf dem Rückweg geriet ich in einen Stau. Stau ist der natürliche Feind des menschlichen Wohlbefindens. Man sitzt in einer Blechdose, umgeben von anderen Blechdosen, und kommt nicht vorwärts. Mein alter Reflex: Fluchen. Auf das Lenkrad hauen. Den Mann im BMW vor mir als evolutionäre Sackgasse bezeichnen.
Aber dann dachte ich an das „Ich-Wir-Pendel“. Im Auto bin ich extrem im „Ich“. Ich bin isoliert. Die anderen sind Hindernisse. Könnte ich das ändern? Ich schaute in den Rückspiegel. Hinter mir saß eine Frau, die sang. Sie sang offensichtlich sehr laut und sehr falsch, denn ihr Kopf wackelte hin und her. Ich musste lachen. Plötzlich war der BMW vor mir nicht mehr nur ein Hindernis. Da saß jemand drin. Vielleicht hatte er auch Müll rausgebracht und wurde von seiner Frau zurechtgewiesen. Die Knowledgebase nennt das „Humanizing“ (Vermenschlichung). In dem Moment, in dem ich mir vorstelle, dass der andere ein Mensch mit einem Innenleben ist (Körper, Gefühl, Gedanken), sinkt mein Aggressionspegel.
Ich probierte eine Übung aus der Sammlung aus: „Der wohlwollende Zeuge.“ Ich stellte mir vor, ich sei gar nicht Billy Buchholz im Stau. Ich sei eine freundliche Außerirdische, die dieses seltsame Ritual beobachtet. „Faszinierend“, dachte die Außerirdische. „Sie sitzen alle in ihren bunten Kisten und warten. Sie vertrauen darauf, dass es weitergeht. Welch ein Glaube.“ Es funktionierte. Mein Blutdruck sank. Ich winkte der singenden Frau im Rückspiegel zu. Sie hörte auf zu singen und sah mich entsetzt an. Okay, vielleicht war Winken zu viel. Aber der Gedanke zählte.
Die Rückkehr der verlorenen Tochter (mit Milch)
Als ich wieder zu Hause ankam, war die Atmosphäre entspannter. Mein Mann hatte seinen Kaffee gehabt. „Hast du die Milch?“ fragte er. „Ja“, sagte ich und stellte sie triumphierend auf den Tisch. „Danke.“ Ich setzte mich zu ihm. Ich verzichtete auf den „Check-in“. Stattdessen sagte ich einfach: „Es tut mir leid, dass ich dich heute Morgen überfallen habe. Ich bin noch etwas… high von der Gruppe.“
Er legte seine Hand auf meine. „Schon gut, Billy. Ich finde es ja gut, dass du das machst. Du wirkst… weicher.“ „Weicher?“ Ich war mir nicht sicher, ob das ein Kompliment für eine Zynikerin war. Klang ich wie ein Weichkäse? „Ja. Weniger zynisch. Du hast dich nicht einmal über das Wetter beschwert, als du reinkamst.“ Tatsächlich. Ich hatte das Wetter vergessen. „Erzähl mir was“, sagte er. „Aber erzähl es mir normal. Ohne Fachbegriffe.“
Und so saßen wir da, bei Kaffee und frischer Milch, und ich erzählte ihm von Brigitte und den Grenzen. Ich erzählte ihm von Thomas und der Wut. Und während ich erzählte, merkte ich, dass ich das, was ich im We Space gelernt hatte, gerade anwendete. Ich war präsent. Ich hörte auf seine Zwischenfragen, statt nur meinen Monolog abzuspulen. Ich spürte meine Füße auf dem Boden. Es war kein Workshop. Es war einfach ein Gespräch am Küchentisch. Aber es hatte eine neue Qualität.
Die DNA des Alltags
In der Sammlung steht ein Satz, der mir erst jetzt wirklich einleuchtete: „Die DNA ist kein Gesetzbuch, sondern eine Haltung.“ Ich hatte versucht, die Regeln (Gesetze) in den Alltag zu tragen. Das musste scheitern. Aber die Haltung – die Neugier, die Offenheit, die Eigenverantwortung – die konnte ich tragen.
Ich muss meinen Mann nicht bitten, einen „Check-in“ zu machen, um zu wissen, wie es ihm geht. Ich kann einfach hinschauen. Ich muss den Kassierer nicht bitten, mit mir zu atmen. Ich kann ihm einfach begegnen. Der We Space ist kein Ort, an den man geht, um heilig zu werden. Er ist ein Ort, an dem man übt, den Panzer abzulegen. Und wenn man ihn verlässt, zieht man den Panzer vielleicht wieder an – aber man lässt ihn einen Spalt weit offen.
Der Tag endete unspektakulär. Ich las mein Buch (Geschichte des Reißverschlusses, Kapitel 3: Die YKK-Verschwörung). Aber als ich im Bett lag, machte ich noch einmal einen inneren Check-in. Körper: Müde. Satt. Gefühl: Dankbar. Und ein bisschen amüsiert über mich selbst. Gedanken: Vielleicht ist das Gegenteil von Einsamkeit nicht, dass man ständig von Menschen umgeben ist. Vielleicht ist das Gegenteil von Einsamkeit, dass man sich selbst in Gegenwart anderer nicht verliert.
Ich drehte mich um und schaute meinen schlafenden Mann an. Ich hörte seinen Atem. Ganz ohne Anleitung, ganz ohne Hüter, synchronisierte sich mein Atem mit seinem. Es war genug. Es war sogar ziemlich perfekt.
Und morgen? Morgen würde ich vielleicht versuchen, den Postboten zu fragen, wie es ihm geht. Aber ich würde mich vorher versichern, dass er nicht in Eile ist. Und ich würde definitiv nicht seine Hand dabei festhalten. Man lernt ja dazu.
Das war Kapitel 5. Im nächsten Kapitel müssen wir uns der Frage stellen: Was passiert, wenn die Gruppe endet? Wie bewahrt man das Feuer, wenn man nicht mehr jede Woche zum Nachlegen kommt? Und was zur Hölle mache ich jetzt mit all diesem überschüssigen Mitgefühl?
Kapitel 6: Der Tag, an dem der Zirkus weiterzieht (oder: Anleitung zum Selberbauen)
Es gibt im Englischen den schönen Begriff „Closing Time“. Er bezeichnet jenen melancholischen, leicht nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch riechenden Moment, in dem der Wirt das Licht anknipst, die Musik verstummt und man realisiert, dass man kein Zuhause hat, sondern nur einen Ort, an dem man für eine Weile geduldet wurde, solange man bezahlte. Das Ende einer intensiven Gruppenerfahrung fühlt sich ähnlich an, nur ohne das Bier. Man hat Wochen damit verbracht, seine Seele auf den Tisch zu legen (was, nebenbei bemerkt, deutlich anstrengender ist als Skat zu spielen), man hat geweint, gelacht und Rücken an Rücken geatmet. Und dann, plötzlich, sagt jemand: „So, das war’s. Geht hin in Frieden, aber geht bitte zügig, wir müssen noch fegen.“
Mein letzter Abend im We Space stand bevor. Ich betrat den Raum mit einer Mischung aus Erleichterung (endlich wieder Dienstagabende mit Netflix!) und einer seltsamen, ziehenden Schwere in der Magengegend, die ich normalerweise nur verspüre, wenn mein Lieblingsbäcker im Urlaub ist. Ich hatte mich an diesen seltsamen Zoo gewöhnt. An Thomas, den zornigen Zyniker. An Luna, die galaktische Lichtgestalt. An Brigitte, die menschliche Granitsäule. Sie waren mir ans Herz gewachsen, wie Moos an einen alten Stein wächst: langsam, unbemerkt und schwer wieder abzukratzen.
Die Anatomie des Abschieds
Historisch gesehen sind Menschen miserabel im Verabschieden. Die alten Wikinger lösten das Problem, indem sie ihre Verstorbenen auf brennende Schiffe setzten und aufs Meer hinausstießen. Das ist spektakulär, aber in einer modernen Innenstadt verkehrstechnisch schwer umzusetzen. Wir Modernen neigen dazu, den Abschied zu zerreden. Wir sagen Dinge wie „Wir müssen unbedingt mal Kaffee trinken“ oder „Lass uns auf Facebook vernetzen“, wohl wissend, dass wir weder Kaffee trinken noch uns vernetzen werden. Wir bauen verbale Brücken ins Nichts, nur um den Schmerz des Endgültigen nicht spüren zu müssen.
Im We Space, so ahnte ich, würde man uns diese Flucht nicht durchgehen lassen. Und ich hatte recht. Felix und Caro (die Gründer, die mittlerweile in meiner Wahrnehmung den Status von gutmütigen Sektenführern verloren hatten und einfach nur zu sehr kompetenten Reiseleitern geworden waren) eröffneten den Abend nicht mit einem Check-in, sondern mit einer Stille. „Heute“, sagte Felix, „geht es um die Ernte. Und um die Aussaat.“ Ich seufzte innerlich. Agrar-Metaphern. Mein absoluter Favorit.
Kein Abschluss, sondern eine Zellteilung
Doch was dann folgte, war überraschend technisch und biologisch zugleich. In der Knowledgebase der Gruppe, die ich mittlerweile fast auswendig kannte (ein beunruhigendes Zeichen), gibt es das Konzept der „Zellteilung“. Eine gesunde Zelle wächst, bis sie eine kritische Größe erreicht. Dann teilt sie sich. Aus eins mach zwei. Eine ungesunde Zelle wächst einfach immer weiter, bis sie platzt oder den Organismus tötet (Krebs). „Diese Gruppe“, erklärte Felix, „ist jetzt zu Ende. Der Container, den wir gebaut haben, löst sich auf. Aber die DNA, die wir entwickelt haben, lebt weiter. In euch.“
Er hielt ein Bündel Papier hoch. Es war die Sammlung für die BB Version. Die DNA. „Das hier“, sagte er, „gehört nicht uns. Es gehört niemandem. Es ist Open Source. Ihr könnt es nehmen. Ihr könnt es kopieren. Ihr könnt es verändern. Ihr könnt eure eigenen Gruppen gründen.“ Das war ein radikaler Gedanke. Normalerweise wollen Gurus ihre Schäfchen behalten. Sie wollen Abos verkaufen, Fortgeschrittenen-Kurse und zertifizierte Trainer-Lizenzen. Der We Space sagte: „Hier ist der Bauplan. Bau dein eigenes Haus. Wir brauchen dich nicht mehr.“
Der „Tribe Starter“ (oder: Die Last der Freiheit)
Hier kamen wir zum Kern des letzten Kapitels, einem Konzept, das in den Unterlagen als „Tribe Starter“ bezeichnet wird. Ein Tribe Starter ist nicht einfach eine Teilnehmerin. Sie ist eine Initiatorin. Die Knowledgebase definiert es so: „Wir wollen keine Konsumenten von Gemeinschaft züchten. Wir wollen Produzenten von Gemeinschaft befähigen.“
Das klang schmeichelhaft, aber auch anstrengend. Ich bin gerne Konsumentin. Ich mag es, wenn andere den Raum lüften, den Tee kochen und die Konflikte moderieren. Ich setze mich gerne ins gemachte Nest. Aber die Philosophie des We Space ist gnadenlos: Wenn du eine Kultur der Verbundenheit willst, musst du sie selbst erschaffen. Du kannst nicht darauf warten, dass der Staat, die Kirche oder Bill Gates dir einen „Wir-Raum“ baut. Du musst selbst den Mut haben, drei Freunde einzuladen und zu sagen: „Leute, lasst uns heute Abend mal nicht über Fußball reden, sondern darüber, wie es uns wirklich geht.“
Ich schaute in die Runde. Thomas sah aus, als würde er gerade eine schwere Rechenaufgabe lösen. „Heißt das“, fragte er, „ich soll so was hier selbst machen?“ „Wenn du willst“, sagte Caro. „Oder etwas anderes. Die Form ist egal. Die Haltung zählt.“ Thomas kratzte sich am Bart. „Ich könnte mir vorstellen, das mit meinen Skatbrüdern zu probieren. Aber die werden mich für verrückt erklären.“ „Vielleicht“, sagte Felix. „Oder vielleicht warten sie nur darauf, dass einer den ersten Schritt macht.“
Das ist das Geheimnis des „Initiativeprinzips“, angewandt auf die Welt draußen. Wir alle warten. Wir warten auf den perfekten Moment, auf die Erlaubnis, auf den anderen. Ein Tribe Starter ist jemand, der aufhört zu warten. Er ist derjenige, der auf der Tanzfläche als Erster tanzt, auch wenn er dabei aussieht wie ein epileptischer Storch. Denn sobald einer tanzt, traut sich der zweite. Und beim dritten ist es eine Party.
Die Ernte: Was nehmen wir mit?
Wir machten eine Runde, in der jeder sagen sollte, was er „mitnimmt“. Keine Floskeln. Konkrete Dinge. Brigitte, die stoische Bibliothekarin, fing an. „Ich nehme meine Grenze mit“, sagte sie. „Ich habe gelernt, dass ich Nein sagen darf, ohne ein schlechter Mensch zu sein. Und ich habe es schon ausprobiert. Gestern hat mich meine Nachbarin gefragt, ob ich ihre Katze füttern kann, während sie auf Mallorca ist. Ich hasse diese Katze. Früher hätte ich Ja gesagt. Gestern habe ich gesagt: Nein, das möchte ich nicht.“ „Und?“ fragten wir alle gespannt. „Sie war überrascht. Aber sie lebt noch. Und ich auch.“ Applaus. Ein kleiner Sieg für die Menschheit, ein großer Verlust für die Katze.
Dann war Luna dran. „Ich nehme mit, dass mein Licht auch Schatten werfen darf“, sagte sie und schaute Thomas an. „Ich muss nicht immer strahlen. Ich darf auch mal trüb sein. Das ist entspannend.“ Thomas nickte ihr zu. Es war ein Nicken unter Veteranen. „Ich nehme mit“, brummte Thomas, „dass ihr spirituellen Leute gar nicht so doof seid, wie ihr ausseht. Und dass Wut eigentlich nur verkleidete Angst ist. Wenn ich das nächste Mal meinen Chef anschreien will, werde ich mich fragen: Wovor habe ich gerade Schiss?“
Dann war ich dran. Alle Augen richteten sich auf mich. Die Autorin. Die Beobachterin. Was nahm ich mit? Ich dachte an das „Ich-Wir-Pendel“. An die Rückenschmerzen vom Sitzen. An die Milch-Krise in meiner Küche. „Ich nehme mit“, sagte ich langsam, „dass Einsamkeit kein Schicksal ist, sondern eine Entscheidung. Eine Entscheidung, im Panzer zu bleiben.“ Ich machte eine Pause. „Und ich nehme mit, dass es verdammt viel Mut kostet, den Panzer zu öffnen. Ich dachte immer, Mut heißt, auf Berge zu klettern oder Bären zu bekämpfen. Aber vielleicht ist der größte Mut, jemanden anzusehen und nichts zu wollen, außer ihn zu sehen.“
Es war still. Keine peinliche Stille, sondern eine satte, volle Stille. In der Sammlung wird das als „Resonanzraum“ bezeichnet. Wenn ein Wort fällt und nicht sofort zerredet wird, sondern nachschwingen darf wie ein Gongschlag.
Der Abschiedsschmerz und das Stachelschwein
Dann kam der physische Abschied. Es gab Umarmungen. Ich bin Britin. Ich umarme nicht. Ich nicke, vielleicht klopfe ich jemandem auf die Schulter, wenn er sich verschluckt hat. Aber hier kam ich nicht drumherum. Luna umarmte mich. Es war weich, warm und roch nach Lavendel. Ich erstarrte kurz, dann entspannte ich mich. Es ist nur Oxytocin, Billy. Es beißt nicht. Thomas umarmte mich. Es war hart, kurz und roch nach kaltem Rauch. Ein Männer-Drücker. Respekt, Kumpel. Brigitte umarmte mich nicht. Sie reichte mir die Hand und schaute mir tief in die Augen. „Vergiss deine Grenze nicht“, sagte sie. „Werde ich nicht“, versprach ich.
Es war das Schopenhauer-Dilemma in Aktion. Wir waren Stachelschweine, die sich für ein paar Wochen gewärmt hatten. Jetzt zogen wir wieder in die Kälte hinaus. Aber wir wussten jetzt, wie man sich wärmt, ohne zu bluten. Das war wertvoll.
Ein Blick in die Zukunft: Die Utopie im Kleinen
Als ich nach Hause ging, dachte ich über die große Perspektive nach. In der Knowledgebase stehen einige fast schon größenwahnsinnige Sätze über die „Evolution der Gesellschaft“. Dass diese Gruppen die Zellen einer neuen Kultur sind. Dass sie die Demokratie retten könnten. Normalerweise bin ich allergisch gegen Weltrettungsfantasien. Meistens enden sie damit, dass alle gleiche Uniformen tragen und Rübensuppe essen.
Aber hier? Wir leben in einer Welt der Polarisierung. Links gegen Rechts. Alt gegen Jung. Veganer gegen Fleischesser. Wir haben verlernt, den Raum dazwischen auszuhalten. Wir schreien uns aus unseren Bunkern an. Der We Space ist ein Trainingslager für die Demilitarisierung der Kommunikation. Wenn Thomas und Luna in einem Raum sitzen können, ohne sich zu töten, dann gibt es Hoffnung für den Nahen Osten. (Okay, vielleicht etwas übertrieben, aber Sie verstehen den Punkt).
Die Idee des Tribe Starter ist demokratisch im tiefsten Sinne. Sie sagt: Die Gesellschaft wird nicht oben in Parlamenten gemacht. Sie wird unten in Wohnzimmern gemacht. Wie wir miteinander reden, wie wir zuhören, wie wir Konflikte lösen – das ist der Stoff, aus dem die Welt besteht. Wenn wir das im Kleinen ändern, ändert es sich vielleicht irgendwann im Großen. Es ist eine „Mikro-Utopie“. Keine große Revolution, die Köpfe rollen lässt. Sondern eine stille Revolution, die Herzen öffnet.
Buchholz’sches Fazit: Was bleibt?
Ich bin jetzt seit drei Wochen „clean“. Keine Treffen mehr. Kein Hüter. Bin ich ein neuer Mensch? Nein. Ich rege mich immer noch über Mülltrennung auf. Ich bin immer noch lieber allein mit einem Buch als auf einer Party. Aber etwas hat sich verschoben.
Letzte Woche saß ich im Zug. Ein Baby schrie. Die Mutter war gestresst. Die Leute rollten mit den Augen. Mein alter Reflex: Warum bleiben diese Leute nicht zu Hause? Mein neuer Reflex: Ich atmete. Ich spürte meine Füße. Ich schaute die Mutter an. Ich lächelte. Ich versuchte, ihr durch den Waggon hindurch zu signalisieren: Ich sehe dich. Es ist okay. Das Baby ist okay. Du machst das gut. Sie sah mich. Sie entspannte sich ein winziges bisschen. Das Baby schrie weiter, aber die Luft war weniger giftig.
Das ist es. Das ist das ganze Geheimnis. Der We Space ist keine Religion. Er ist keine Therapie. Er ist eine Erinnerung. Eine Erinnerung daran, dass wir keine isolierten Datensätze sind, die durchs All treiben. Wir sind verbunden. Ob wir wollen oder nicht. Wir atmen dieselbe Luft. Wir haben dieselben Ängste. Wir suchen dieselbe Wärme.
Die „Kurze Geschichte des Gegenteils von Einsamkeit“ ist keine Geschichte über eine Gruppe, die ich besuchte. Es ist die Geschichte einer Fähigkeit, die ich wiederentdeckt habe. Die Fähigkeit, präsent zu sein. Die Fähigkeit, den anderen nicht als Objekt, sondern als Subjekt zu sehen. Die Fähigkeit, im Regen zu stehen und zu sagen: „Ja, es ist nass. Aber wir sind zusammen nass.“
Ich werde wohl keinen eigenen Tribe gründen. Ich bin zu faul, und ich habe Angst, dass die Leute meine Keksauswahl kritisieren. Aber ich werde die DNA in mir tragen. Ich werde eine „Schläfer-Agentin“ der Verbundenheit sein. Ich werde im Supermarkt, im Stau und am Frühstückstisch kleine Guerilla-Aktionen der Menschlichkeit starten. Ich werde zuhören, wenn ich eigentlich reden will. Ich werde fragen, wenn ich eigentlich urteilen will. Und ich werde ab und zu, wenn niemand guckt, meinen Rücken an eine Wand lehnen und mir vorstellen, dass da draußen, irgendwo in dieser riesigen Stadt, Brigitte ihren Rücken an eine andere Wand lehnt und atmet.
Epilog: Die Einladung
Das Buch endet hier, aber die Geschichte nicht. Die DNA liegt jetzt auf meinem Schreibtisch. Neben ihr liegt ein Stift. Ich habe ein paar Anmerkungen gemacht. Ein paar Dinge durchgestrichen. Ein paar britische Witze an den Rand gekritzelt. Die DNA mutiert weiter.
Vielleicht haben Sie, lieber Leser, jetzt auch Lust bekommen. Nicht unbedingt, um sich in einen Kreis zu setzen. Aber um etwas zu wagen. Vielleicht das nächste Mal, wenn Sie jemanden fragen „Wie geht’s?“, wirklich auf die Antwort zu warten. Vielleicht das nächste Mal, wenn Sie einen Konflikt spüren, nicht wegzulaufen, sondern zu sagen: „Ich merke, dass ich wütend werde. Und ich möchte verstehen, warum.“
Es ist riskant. Es ist unbequem. Es ist das Gegenteil von sicher. Aber es ist das Einzige, was uns davor bewahrt, in unseren perfekt klimatisierten, perfekt vernetzten, perfekt einsamen Leben zu erfrieren.
In diesem Sinne: Ziehen Sie die Schuhe aus. Atmen Sie tief durch. Und riskieren Sie einen Blick in die Augen eines Fremden. Es könnte sein, dass Sie sich selbst darin finden.
Und falls Sie jemals eine ältere Dame in Tweed sehen, die im Supermarkt selig lächelnd vor dem Müsli-Regal steht und „Om“ zu summen scheint – sprechen Sie mich ruhig an. Aber bitte, wahren Sie die persönliche Distanz von 1,20 Metern. Ich bin immer noch Britin.
Kapitel 7: Die Verschwörung der Tupperware (oder: Wie man Freunde verliert und Menschen verwirrt)
Es gibt eine alte Weisheit unter Entdeckern, die besagt, dass der gefährlichste Teil einer Reise nicht der Aufbruch ins Unbekannte ist, sondern die Rückkehr nach Hause. Wenn Sie vom Mount Everest zurückkommen, erwarten Sie, dass die Leute ehrfürchtig Ihren Erfrierungen lauschen. Stattdessen fragen sie: „Hast du daran gedacht, die Milch zu kaufen?“ Nach meinen Wochen im „We Space“ fühlte ich mich wie eine emotionale Astronautin, die auf die Erde zurückgekehrt war, nur um festzustellen, dass die Schwerkraft hier unten aus nörgelnden Nachbarn, passiv-aggressiven E-Mails und einer erschreckenden Menge an Smalltalk über das Wetter besteht.
Ich litt, medizinisch gesprochen, an „Tiefe-Entzug“. Nachdem man sich daran gewöhnt hat, wildfremden Menschen in die Augen zu schauen und zu sagen: „Ich spüre eine existentielle Leere in meinem linken Knie“, wirkt die normale menschliche Konversation so nahrhaft wie das Kauen auf Styropor. Ich traf meinen Nachbarn Dave am Zaun. Dave ist ein Mann, dessen emotionales Spektrum sich normalerweise zwischen „Mein Rasenmäher ist kaputt“ (Trauer) und „Mein Rasenmäher funktioniert wieder“ (Ekstase) bewegt. „Schönes Wetter heute“, sagte Dave. „Ja“, sagte ich. „Aber spürst du auch diese unterschwellige Melancholie des Herbstes, die uns an unsere eigene Vergänglichkeit erinnert?“ Dave starrte mich an, als hätte ich ihm gerade angeboten, seine Katze zu essen. „Äh… ich wollte eigentlich nur den Laubsauger zurück“, sagte er und wich langsam zurück.
In diesem Moment traf ich eine Entscheidung. Eine fatale Entscheidung. Ich erinnerte mich an das letzte Kapitel der Knowledgebase: den „Tribe Starter“. Dort stand: „Warte nicht auf die Gemeinschaft. Erschaffe sie.“ Und ich dachte: Verdammt noch mal, genau das werde ich tun. Ich werde die DNA des We Space nehmen und sie in mein Wohnzimmer pflanzen. Ich werde Dave und die anderen Nachbarn erleuchten, ob sie wollen oder nicht. Ich werde eine Oase der Authentizität zwischen den Rhododendren von Surrey erschaffen.
Es war, wie sich herausstellen sollte, eine der schlechtesten Ideen meines Lebens.
Die Einladung (Das trojanische Pferd)
Das erste Problem beim Gründen eines „Tribes“ (Stammes) im echten Leben ist, dass man ihn nicht „Tribe“ nennen kann. Wenn Sie Ihren Nachbarn eine Einladung zu einem „Stammes-Treffen für radikale Ehrlichkeit“ schicken, rufen sie nicht zu, sondern die Polizei. Also tat ich das, was jede gute Britin tut: Ich tarnte es als Umtrunk. „Zwangloses Beisammensein bei den Buchholzs. Snacks, Getränke und… gute Gespräche.“ Das „gute Gespräche“ unterstrich ich fett. Ein subtiler Hinweis, so dachte ich. Ein Warnschild, so hätten es andere interpretiert.
Zu meiner Überraschung sagten sie zu. Dave (der Mann mit dem Rasenmäher) kam. Mrs. Gable, eine Witwe, die alles über jeden wusste und deren Superkraft darin bestand, durch geschlossene Vorhänge zu sehen, kam. Und Mr. Peterson, ein pensionierter Buchhalter, der so leise sprach, dass man meistens Lippenlesen musste, kam auch. Es war keine Elite-Truppe der Selbstreflexion. Es war, um ehrlich zu sein, eher die Besetzung einer sehr langweiligen Sitcom. Aber in der DNA stand: „Wir arbeiten mit dem, was da ist.“ Nun, das war da.
Phase 1: Der misslungene Container
Der Abend begann, wie solche Abende immer beginnen: steif. Wir standen in meinem Wohnzimmer, hielten Gläser mit billigem Chardonnay fest, als wären es Rettungsringe, und redeten über die Gemeindeabgaben. „Eine Schande ist das“, sagte Mrs. Gable. „Sie haben die Müllabfuhr schon wieder verschoben.“ „Dienstag ist jetzt Mittwoch“, bestätigte Dave düster.
Ich spürte, wie meine innere „Hüterin“ (die Rolle, die ich mir selbst arrogierterweise zugeschustert hatte) unruhig wurde. Das war kein „We Space“. Das war die Hölle der Banalität. Ich klatschte in die Hände. Viel zu laut. Mr. Peterson verschüttete fast seinen Wein. „So, Leute!“, rief ich mit einer Fröhlichkeit, die selbst mir hysterisch vorkam. „Das ist ja alles sehr interessant. Aber ich dachte, wir machen heute Abend mal was anderes.“ Sie starrten mich an. „Was anderes?“, fragte Dave misstrauisch. „Hast du etwa Twister gekauft?“ „Nein, Dave. Besser.“ Ich zog einen Stapel Karteikarten aus der Tasche. Ich hatte die Prinzipien der Sammlung auf handliche Spickzettel geschrieben. „Wir machen einen Check-in“, verkündete ich.
„Einen was?“, fragte Mrs. Gable. „Müssen wir uns registrieren? Ist das wegen der Steuer?“ „Nein“, erklärte ich geduldig. „Ein Check-in ist eine Runde, in der jeder kurz sagt, wie er wirklich da ist. Auf drei Ebenen: Körper, Gefühle, Gedanken.“ Stille. Man konnte hören, wie eine Fliege gegen das Fenster summte, vermutlich in dem verzweifelten Versuch, zu entkommen. „Ich fange an“, sagte ich mutig, um das Eis zu brechen (oder den Eisberg zu rammen). „Mein Körper ist angespannt, besonders im Schulterbereich. Mein Gefühl ist eine Mischung aus Aufregung und Angst vor Ablehnung. Und mein Gedanke ist: Hoffentlich halten die mich nicht für verrückt.“
Ich strahlte sie erwartungsvoll an. Dave räusperte sich. „Okay, Billy. Äh. Mein Körper… steht hier. Mein Gefühl ist… Durst. Und mein Gedanke ist: Der Chardonnay ist alle.“ Mrs. Gable kicherte nervös. „Also wirklich, Billy. Was sind das für Fragen?“ „Versuch es einfach, Enid“, drängte ich. „Tief in dich hineinhorchen.“ Sie seufzte. „Na gut. Mein Körper tut weh, wie immer, die Arthritis. Mein Gefühl ist… Skepsis. Und mein Gedanke ist: Warum hast du keine Salzstangen?“
Ich merkte, wie mir der Schweiß ausbrach. Das hier funktionierte nicht. In der Gruppe hatte der Check-in immer diesen magischen Sog erzeugt. Hier erzeugte er nur den Wunsch nach Salzgebäck. Was hatte ich falsch gemacht? In der Knowledgebase gibt es einen Abschnitt über den „Container“. Ein Container ist der sichere Rahmen, den man vorher vereinbart. Man braucht einen Konsens. Ich hatte keinen Konsens. Ich hatte einen Überfall begangen. Ich versuchte, Fußballregeln in einem Spiel anzuwenden, bei dem alle anderen dachten, wir spielen Monopoly.
Phase 2: Die Eskalation (oder: Mr. Peterson dreht auf)
Ich hätte an diesem Punkt aufgeben können. Ich hätte Salzstangen holen und über die Müllabfuhr reden können. Aber ich bin eine Tribe Starterin. Zumindest in meiner Fantasie. „Okay“, sagte ich. „Das war schon mal ein Anfang. Jetzt gehen wir eine Stufe tiefer. Wir üben das Initiativeprinzip.“ „Klingt wie Arbeit“, brummte Dave. „Nein, es ist Freiheit!“, rief ich. „Es bedeutet: Du bist für dein Erleben verantwortlich. Wenn du dich langweilst, Dave, ist das deine Schuld. Wenn du Salzstangen willst, Enid, dann sag es nicht als Vorwurf, sondern als Bedürfnis.“
Mrs. Gable kniff die Augen zusammen. „Willst du mir etwa sagen, wie ich zu reden habe, junge Frau?“ (Ich bin 29, aber für Enid bin ich immer noch das Mädchen von nebenan). „Nein, Enid. Ich biete dir einen Raum an, in dem du echt sein kannst.“ „Ich bin immer echt!“, schnappte sie. „Und ich finde es unhöflich, keine Snacks zu haben.“
Plötzlich meldete sich Mr. Peterson. Der stille Mr. Peterson. „Ich finde das gut“, sagte er leise. Wir drehten uns alle zu ihm um. „Was findest du gut, Arthur?“, fragte Dave. „Das mit dem Echt-Sein“, sagte Mr. Peterson. Er stellte sein Glas ab. Seine Hände zitterten leicht. „Ich…“, er stockte. „Ich fühle mich oft sehr einsam. Seit Mary tot ist. Niemand fragt mich, wie es mir geht. Alle reden nur über das Wetter. Ich hasse das Wetter.“
Bumm. Da war es. Das We Space Moment. Mitten in meinem Wohnzimmer, zwischen einem verwirrten Dave und einer beleidigten Enid. Die Atmosphäre kippte sofort. Enids Gesicht wurde weicher. „Oh, Arthur“, sagte sie. „Aber wir reden doch oft am Zaun.“ „Ja“, sagte Arthur. „Über deine Rosen. Aber nie über Mary. Als wäre sie nie da gewesen.“
In der Sammlung steht viel über „Schattenarbeit“. Der Schatten in unserer Nachbarschaft war nicht Gier oder Wut. Es war die Trauer. Eine riesige, unverdaute Trauer, die wir alle höflich ignorierten, indem wir über Mülltonnen sprachen. Dave sah auf seine Schuhe. Er wirkte extrem unwohl. Männer wie Dave sind darauf programmiert, Probleme zu lösen. Wenn der Rasenmäher kaputt ist, repariert man ihn. Wenn ein Mann weint, bietet man ihm ein Bier an. Aber Arthur hatte noch Wein. Dave war hilflos.
Phase 3: Der falsche Hüter
Hier machte ich meinen zweiten Fehler. Angetrieben von meinem Erfolg (Arthur weint! Es funktioniert!), schaltete ich in den Therapeuten-Modus. „Bleib da, Arthur“, sagte ich mit meiner sanftesten We-Space-Stimme. „Spür den Schmerz. Enid, Dave, was macht das mit euch? Geht in Resonanz.“
Dave hob den Kopf. „Billy, hör auf.“ „Was?“ „Hör auf mit diesem Psycho-Gelaber“, sagte Dave. Seine Stimme war hart. „Arthur ist traurig. Das sehen wir. Wir müssen das nicht ‚in Resonanz‘ bringen. Wir müssen ihm verdammt noch mal ein Taschentuch geben und vielleicht den Arm um die Schulter legen.“ Er stand auf, ging zu Arthur und legte ihm seine schwere Hand auf die Schulter. „Es ist okay, Kumpel“, brummte Dave. „Mary war eine gute Frau. Wir vermissen sie auch.“ Arthur schluchzte auf. Dave klopfte ihm unbeholfen, aber herzlich auf den Rücken. Enid kramte in ihrer Handtasche und reichte Arthur ein Taschentuch (mit Lavendelduft, vermutlich).
Ich stand da mit meinen Karteikarten und fühlte mich wie ein Idiot. Ich hatte versucht, eine Technik anzuwenden (Co-Regulation durch verbale Prozessbegleitung), während Dave und Enid instinktiv etwas viel Älteres und Wichtigeres taten: Sie waren einfach menschlich. Sie brauchten meine „DNA“ nicht. Sie brauchten keine „Hüterin“, die den Prozess moderiert. Sie brauchten nur die Erlaubnis, den Schild fallen zu lassen. Und ironischerweise hatte mein unbeholfener Versuch, sie zu zwingen, genau das bewirkt – aber nicht, weil ich so toll war, sondern weil Arthur mutig genug war, das Initiativeprinzip anzuwenden, ohne zu wissen, was es ist.
Die Analyse des Scheiterns (im Schein der Stehlampe)
Nachdem Arthur sich beruhigt hatte und wir (auf Daves Drängen hin) eine Flasche Whisky geöffnet hatten, wurde der Abend seltsam gut. Wir redeten nicht mehr über „Ebenen“ oder „Resonanz“. Wir redeten über Mary. Über Enids Angst, ins Heim zu müssen. Über Daves Scheidung vor zehn Jahren, über die er noch nie gesprochen hatte. Ich saß da und hörte zu. Ich moderierte nicht. Ich war keine Tribe Starterin. Ich war einfach Billy, die Nachbarin.
Später, als alle weg waren und das Wohnzimmer nach Whisky und Ehrlichkeit roch, setzte ich mich hin und schlug die Knowledgebase auf. Ich suchte nach dem Fehler. Ich fand ihn im Kapitel über die „Angebotsgemeinschaft“. Dort steht: „Angebote müssen freiwillig sein. Wenn du versuchst, Menschen zu verändern, erzeugst du Widerstand.“ Ich hatte versucht, meine Nachbarn zu verändern. Ich wollte, dass sie „bewusster“ sind. Das war arrogant. Das ist das, was man „Spiritual Bypassing“ nennt, nur andersrum: Ich nutzte spirituelle Techniken, um mich über sie zu erheben. Ich wollte der erleuchtete Guru (oder die Guruin?) von Surrey sein.
Aber Arthur, Dave und Enid hatten mir eine Lektion erteilt. Echte Verbindung entsteht nicht durch Regeln. Sie entsteht durch Notwendigkeit. Arthur sprach nicht, weil ich ihn eingeladen hatte. Er sprach, weil sein Leidensdruck (die Einsamkeit) größer war als seine Angst. Mein einziger Verdienst war, dass ich eine Situation geschaffen hatte, die so absurd und unangenehm war („Check-in“), dass die normale soziale Matrix zusammenbrach. Ich hatte das System gestört. Und in dieser Störung konnte die Wahrheit durchbrechen.
Die Geburt des „Dienstags-Whisky-Clubs“
Am nächsten Tag traf ich Dave wieder am Zaun. Ich erwartete, dass er mich ignoriert oder mir eine Rechnung für die psychische Belästigung schickt. Stattdessen grinste er. „War gar nicht so übel gestern, Billy“, sagte er. „Wirklich?“ „Ja. Arthur hat heute Morgen angerufen. Er sagte, er hat zum ersten Mal seit Monaten durchgeschlafen.“ „Das freut mich.“ „Wir haben gedacht…“, Dave kratzte sich am Nacken. „Vielleicht machen wir das wieder? Nächsten Dienstag?“ Ich starrte ihn an. „Aber ohne diese komischen Kärtchen, Billy. Und mit Salzstangen.“ „Deal“, sagte ich.
So wurde der „Dienstags-Whisky-Club“ geboren. Ist es ein „We Space“? Nach den strengen Kriterien der Sammlung: Nein. Wir haben keinen Hüter. Wir machen keinen Check-in. Wir reden oft über Fußball. Aber nach der tieferen Logik der DNA: Ja. Es ist ein Raum, in dem Arthur weinen darf. Ein Raum, in dem Enid zugeben darf, dass sie Angst hat. Ein Raum, in dem Dave nicht nur der Mann mit dem Rasenmäher ist.
Ich habe gelernt, dass man die DNA nicht wie ein Gesetzbuch anwenden kann. Man muss sie wie Hefe verwenden. Man mischt ein ganz kleines bisschen davon in den Teig des Alltags – ein bisschen mehr Zuhören hier, eine ehrliche Frage da – und lässt es gehen. Manchmal geht der Teig auf. Manchmal fällt er zusammen. Und manchmal backt man stattdessen einen Whisky-Kuchen.
Die Theorie der sozialen Osmose
In der Knowledgebase gibt es einen Abschnitt über „Soziale Vielfalt“. Er besagt, dass Gruppen dazu neigen, homogen zu werden. Gleiche Leute, gleiche Meinungen. Der We Space war toll, aber er war eine Blase. Wir waren alle „Sucher“. Mein Nachbarschafts-Club war das Gegenteil einer Blase. Dave wählt eine Partei, die ich verachte. Enid hält Klimawandel für eine Erfindung der Chinesen. Im We Space hätten wir das „konfligiert“ und „integriert“. Im Whisky-Club lassen wir es manchmal einfach stehen. Und das ist eine eigene, harte Form von Yoga: Den anderen aushalten, obwohl er Dinge sagt, die man für dumm hält, einfach weil man weiß, dass er Arthur getröstet hat.
Ich begriff, dass „Innere Sicherheit“ nicht bedeutet, dass alle meiner Meinung sind. Es bedeutet, dass ich weiß: Wenn mein Haus brennt, wird Dave kommen, auch wenn er politisch falsch liegt. Das ist eine archaischere Form von Gemeinschaft. Weniger poliert, weniger psychologisch ausgefeilt, aber verdammt robust.
Der Schatten der Helferin
Eine letzte Erkenntnis aus diesem Experiment betrifft mich selbst. Ich habe in diesem Kapitel meine eigene Eitelkeit entdeckt. Ich wollte die „Bringerin“ der Wahrheit sein. Ich wollte diejenige sein, die die anderen rettet. Die Sammlung warnt davor: Der „Host“ dient dem Raum, nicht seinem Ego. Wenn ich Dave und Enid wirklich dienen will, muss ich meine Klappe halten und die Salzstangen besorgen. Ich muss den Raum halten, nicht füllen.
Das ist verdammt schwer für jemanden, der gerne redet (und Bücher schreibt). Aber ich übe. Beim letzten Treffen fing Enid wieder an, über die Müllabfuhr zu schimpfen. Mein alter Reflex: Unterbreche sie! Bring Tiefe rein! Frag sie nach ihrer Angst vor dem Tod! Mein neuer Reflex: Ich atmete. Ich lehnte mich zurück. Ich hörte zu. Ich hörte nicht nur die Beschwerde. Ich hörte die Einsamkeit einer Frau, deren einziger Kontakt zur Außenwelt oft der Müllmann ist. „Das ist wirklich ärgerlich, Enid“, sagte ich. Und ich meinte es ernst. Sie sah mich an. „Danke, Billy. Wenigstens eine, die mich versteht.“ Sie lächelte. Und dann erzählte sie uns, wie sie 1968 ihren Mann auf einem Rolling Stones Konzert kennengelernt hat. Dave verschluckte sich fast an seinem Whisky. „Du warst bei den Stones, Enid?“ „Ich habe Mick Jagger angefasst“, sagte sie trocken.
Wir saßen bis zwei Uhr morgens da. Es war der beste We Space Abend, den ich je hatte. Und niemand hatte das Wort „Achtsamkeit“ benutzt.
Buchholz’sches 2.0: Die Unkontrollierbarkeit des Lebens
Was lernen wir daraus? Erstens: Unterschätze nie eine Witwe mit Arthritis. Zweitens: Die Werkzeuge des We Space sind mächtig, aber sie sind Werkzeuge, keine Religion. Ein Hammer ist großartig, um ein Haus zu bauen, aber schlecht, um einer Freundin über den Kopf zu streicheln. Man muss wissen, wann man den Hammer weglegt und einfach nur da ist.
Die Idee des Tribe Starter ist richtig. Aber man startet keinen Tribe, indem man ein Manifest vorliest. Man startet ihn, indem man ein Feuer macht (oder Whisky einschenkt) und wartet, wer sich dazu setzt. Die Wärme lockt die Menschen an, nicht die Regeln. Die Regeln (die DNA) sind nur dazu da, damit wir uns nicht verbrennen, wenn wir dem Feuer zu nahe kommen.
Ich werde meine Karteikarten behalten. Für Notfälle. Aber vorerst lasse ich sie in der Tasche. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun. Dave will uns nächsten Dienstag erklären, wie man einen Vergaser reinigt. Und Arthur hat versprochen, Fotos von Mary mitzubringen. Ich glaube, ich werde viel lernen. Über Vergaser. Und über Liebe. Und vielleicht, ganz vielleicht, ist das dasselbe. Beides braucht Pflege, beides kann verstopfen, und beides bringt einen vorwärts, wenn es funktioniert.
Also, liebe Leser: Wenn Sie das nächste Mal denken, Sie müssten die Welt retten oder Ihre Nachbarn erleuchten – kaufen Sie erst mal Salzstangen. Der Rest ergibt sich.
Kapitel 8: Wenn Welten kollidieren (oder: Warum man seinen Guru nicht zum Grillen einlädt)
Es gibt in der Physik ein Phänomen, das als „kritische Masse“ bekannt ist. Es beschreibt den Punkt, an dem genug spaltbares Material zusammenkommt, um eine nukleare Kettenreaktion auszulösen. In der Sozialdynamik gibt es ein ähnliches Phänomen. Es tritt auf, wenn man versucht, seine verschiedenen Freundeskreise zu mischen. Jeder kennt das: Man hat die Freunde aus der Schulzeit, die Witze erzählen, die man seit 1978 kennt. Man hat die Arbeitskollegen, mit denen man über den Chef lästert. Und man hat – in meinem neuen, seltsamen Fall – die „We Space“-Leute, mit denen man über die Textur der eigenen Seele spricht. Die goldene Regel des sozialen Überlebens lautet: Halte diese Gruppen getrennt. Baue dicke Mauern dazwischen. Minenfelder, wenn nötig. Denn wenn Dave (der Rasenmäher-Mann) auf Luna (die Galaxie-Frau) trifft, entsteht Antimaterie. Das Universum könnte implodieren. Oder, was für eine Britin noch schlimmer ist: Es könnte eine peinliche Stille entstehen.
Doch wie das Schicksal – und die unerbittliche Logik der Knowledgebase – es wollten, stand mir genau diese Katastrophe bevor.
Der Ruf der Mutterzelle
Alles begann mit einer E-Mail von Felix. Betreff: „Splash – Das große Wiedersehen & die nächste Stufe der Evolution“ In der E-Mail stand, dass die Zeit der „Kleingruppen“ vorbei sei. Es sei Zeit für die „Zellfusion“. Ein großes Treffen aller lokalen Gruppen und „Tribe Starter“, um die „kollektive Intelligenz“ zu nutzen. Und – hier kam der Haken – wir sollten „Gäste mitbringen“. Menschen aus unseren neuen Tribes. Es war eine Einladung zur Integration. Für mich las es sich wie eine Einladung zum sozialen Selbstmord.
Ich saß in meinem Wohnzimmer, Dave saß mir gegenüber und kaute an einer Salzstange (wir hatten uns inzwischen auf die Premium-Marke geeinigt). „Du willst also“, sagte Dave langsam, als würde er versuchen, einem Hund Algebra beizubringen, „dass ich mitkomme zu diesen… Gefühls-Leuten?“ „Es sind keine Gefühls-Leute, Dave. Es sind… Forschungsreisende des Inneren.“ Dave schnaubte. „Haben die Bier?“ „Wahrscheinlich Tee. Aber wir können danach in den Pub gehen.“ Dave überlegte. „Kommt Enid mit?“ „Enid hat gesagt, sie kommt nur mit, wenn sie niemanden umarmen muss.“ „Ein vernünftiger Standpunkt“, nickte Dave. „Na gut. Ich komme mit. Aber nur, um zu sehen, ob du da auch so komisch redest wie am Anfang.“
Die Geschichte der Exklusivität (Ein kurzer Exkurs)
Bevor wir die Katastrophe betreten, lassen Sie uns kurz über das menschliche Bedürfnis nach Exklusivität nachdenken. Seit Anbeginn der Zeit definieren sich Gruppen dadurch, wer nicht dazu gehört. Die Gentlemen’s Clubs in London des 19. Jahrhunderts waren Orte, an denen Männer Zigarren rauchten und schwiegen, und ihr Hauptzweck bestand darin, dass Frauen (wie ich, die ich dort höchstens hätte Staub wischen dürfen) und arme Leute draußen bleiben mussten. Exklusivität schafft Identität. „Wir sind die, die das verstehen. Die da draußen sind die Unwissenden.“
Der We Space behauptet von sich, inklusiv zu sein. In der Knowledgebase wird die Vision einer „Stadtgemeinschaft“ skizziert, in der unterschiedliche Blasen sich berühren. Aber sind wir ehrlich: Auch der We Space ist eine Blase. Eine Blase aus Leuten, die bereit sind, ihre Schuhe auszuziehen, Worte wie „Resonanz“ zu benutzen und die überdurchschnittlich viel Leinenkleidung besitzen. Dave in diese Blase zu bringen, war ein Experiment am offenen Herzen der Toleranz.
Die Ankunft: Sage vs. Old Spice
Das Treffen fand in einem Gemeindezentrum statt, das normalerweise für Yogakurse und Treffen der Anonymen Alkoholiker genutzt wurde. Der Raum roch nach einer Mischung aus getrocknetem Salbei (We Space) und Bohnerwachs (Realität). Wir traten ein. Ich, Dave in seinem besten Polohemd (das mit dem kleinen Krokodil, das aussah, als hätte es Mumps) und Enid, die ihre Handtasche so fest umklammerte, als erwartete sie einen Taschendiebangriff.
Der Kontrast war visuell sofort erfassbar. Auf der linken Seite: Die We-Space-Veteranen. Luna, Thomas (mein alter Freund Thomas!), Felix, Caro. Bunte Schals, entspannte Körperhaltung, viel Augenkontakt. Auf der rechten Seite: Mein „Whisky-Club“. Dave, Enid, Mr. Peterson. Steif wie Bügelbretter, skeptische Blicke, bereit zur Flucht.
„Willkommen!“, rief Felix und breitete die Arme aus. Luna kam auf uns zu geschwebt. Sie sah Dave an. „Willkommen im Raum“, sagte sie sanft. „Wie ist deine Energie?“ Dave blinzelte. Er sah mich hilfesuchend an. Ich sah weg. Du wolltest es so, Billy. „Meine Energie?“, wiederholte Dave. „Äh. Ich habe gut gefrühstückt. Rührei.“ Luna lächelte, als hätte er gerade ein Haiku rezitiert. „Rührei. Erdung. Das ist wunderbar.“ Dave flüsterte mir zu: „Ist die high?“ „Nein, Dave. Sie ist präsent.“
Das Fishbowl-Desaster
Nach einer Aufwärmrunde (bei der Enid sich weigerte, ihre Schuhe auszuziehen, mit der Begründung, ihre Füße seien „Privatsache“), kündigte Felix die Hauptübung an: Eine Fishbowl (Goldfischglas). Das Konzept ist simpel: Ein kleiner Kreis von Stühlen in der Mitte, der Rest sitzt außen herum. Nur wer in der Mitte sitzt, darf reden. Wer reden will, muss in die Mitte gehen. Das Thema: „Was trennt uns? Was verbindet uns?“
Zuerst saßen dort die üblichen Verdächtigen. Luna sprach über ihre Sehnsucht nach Verschmelzung. Ein Mann namens Holger sprach über seinen Schmerz, in einer kalten Gesellschaft zu leben. Es war der vertraute We-Space-Sound: reflektiert, weich, ein bisschen therapeutisch. Dave rutschte auf seinem Außenstuhl hin und her. Ich sah, wie sein Hals rot wurde. Das war das Warnsignal. Der „Dave-Druckkessel“ stieg an.
Plötzlich stand Dave auf. Er marschierte in die Mitte und setzte sich auf einen freien Stuhl. Die Stille im Raum war absolut. Der Mann mit dem Polohemd hatte die Bühne betreten. Dave atmete schwer. „Ich höre euch jetzt seit einer Stunde zu“, begann er. Seine Stimme war laut, viel zu laut für den sanften Container. „Ihr redet über Verbindung. Und über Liebe. Und über Schmerz.“ Er machte eine Pause. „Aber wisst ihr, was mir fehlt? Ihr redet nicht über die Arbeit. Ihr redet nicht darüber, wie schwer es ist, morgens aufzustehen, wenn der Rücken wehtut, und trotzdem den Job zu machen. Ihr sitzt hier in eurem warmen Kreis und redet über ‚Energie‘. Aber draußen, da muss jemand die Straße teeren. Da muss jemand den Müll abholen. Und diese Leute haben keine Zeit, ihre Chakren zu fühlen.“
Ein Raunen ging durch den Raum. Luna sah aus, als hätte man ihr eine tote Maus vor die Füße gelegt. Aber Dave war noch nicht fertig. „Ihr kommt mir vor wie Leute, die im Rettungsboot sitzen und darüber diskutieren, welche Farbe die Schwimmwesten haben sollten, während der Rest von uns im kalten Wasser schwimmt und versucht, nicht abzusaufen.“
Der Clash der Kulturen
Das war der Moment. Der Moment der Wahrheit. In den meisten spirituellen Zirkeln wäre Dave jetzt höflich hinausbegleitet worden. „Vielen Dank für deinen Beitrag, aber deine Energie ist sehr aggressiv.“ Ich hielt den Atem an. Ich sah zu Felix. Felix lächelte nicht. Aber er sah auch nicht wütend aus. Er sah… interessiert aus. Er stand auf und setzte sich zu Dave in die Mitte.
„Danke, Dave“, sagte Felix. Dave starrte ihn an. „Wofür?“ „Dass du die Realität hier reinbringst. Wir werden hier drin manchmal etwas… abgehoben. Wir vergessen den Asphalt.“ Dave entspannte sich ein winziges bisschen. „Ja. Das tut ihr.“ „Aber Dave“, sagte Felix sanft, „glaubst du, der Mann, der die Straße teert, hat keine Angst? Glaubst du, er fühlt sich nicht manchmal einsam, wenn er abends nach Hause kommt?“ „Natürlich tut er das“, sagte Dave. „Aber er jammert nicht darüber.“ „Und wohin tut er den Schmerz?“ „Er… er trinkt ein Bier. Oder er schreit den Fernseher an.“ „Funktioniert das?“
Dave schwieg. Er dachte an seine zehn Jahre nach der Scheidung. An die Abende vor dem Fernseher. „Nicht immer“, sagte er leise. „Eben“, sagte Felix. „Wir versuchen hier nur, einen anderen Ort für den Schmerz zu finden als das Bierglas.“
Die Integration (oder: Enids großer Auftritt)
Plötzlich stand Enid auf. Mrs. Gable. Die Frau, die ihre Schuhe anbehielt. Sie setzte sich auf den dritten Stuhl in der Mitte. Jetzt wurde es surreal. Enid richtete ihren Rock. Sie schaute Luna an. Sie schaute Dave an. „Ich finde“, sagte sie mit ihrer scharfen, brüchigen Stimme, „ihr habt beide recht. Und ihr seid beide unerträglich.“ Lachen im Außenkreis. „Ihr jungen Leute“, sie zeigte auf Luna, „ihr seid so weich, dass man Angst hat, ihr zerfließt. Man braucht im Leben eine Schale. Ohne Schale überlebt man keinen Winter.“ Sie drehte sich zu Dave. „Und du, Dave. Deine Schale ist so dick, dass niemand mehr reinkommt. Du bist wie eine alte Schildkröte. Manchmal muss man den Kopf rausstrecken.“
Sie holte tief Luft. „Ich bin 78 Jahre alt. Ich habe meinen Mann verloren. Ich habe meine Gesundheit verloren. Ich habe meine Schale und ich habe meinen weichen Kern. Und ich sage euch: Wir brauchen beides. Wir brauchen den Asphalt, Dave. Und wir brauchen den Sternenhimmel, Luna. Wenn wir nur Asphalt haben, ist das Leben grau. Wenn wir nur Sterne haben, fallen wir in den Gulli.“
Das war sie. Die Weisheit der Ältesten. In der Knowledgebase wird oft von der „Hierarchie der Kompetenz“ gesprochen. Aber hier sahen wir die „Hierarchie der Lebenserfahrung“. Enid hatte keine Workshops besucht. Sie hatte das Leben besucht. Und sie hatte in drei Sätzen zusammengefasst, wofür wir acht Kapitel gebraucht hatten.
Das Prinzip der „Vitalen Spannung“
Was an diesem Nachmittag passierte, war genau das, was die Sammlung als „Vitale Spannung“ beschreibt. Eine Gruppe, in der sich alle einig sind, ist tot. Sie ist ein Echo-Raum. Lebendigkeit entsteht dort, wo Unterschiede aufeinanderprallen und gehalten werden können. Der We Space hatte Dave gebraucht. Er hatte seine Bodenständigkeit, seinen „Bullshit-Detektor“ gebraucht. Und Dave hatte den We Space gebraucht. Er hatte einen Ort gebraucht, an dem er zugeben konnte, dass Bier nicht immer hilft.
Nach der Fishbowl passierte etwas Erstaunliches. Luna ging zu Dave. Ich wollte dazwischenspringen, aber ich war zu langsam. „Du hast recht“, sagte Luna zu Dave. „Ich vergesse oft die Welt da draußen. Danke für die Erdung.“ Dave kratzte sich am Nacken. Er sah aus wie ein Bär, dem ein Schmetterling auf der Nase gelandet ist. „Schon gut“, brummte er. „Und… das mit der Energie… war vielleicht gar nicht so dumm. Manchmal bin ich echt energielos.“
Sie heirateten nicht (das wäre ein zu kitschiges Ende). Sie wurden auch keine besten Freunde. Aber sie respektierten sich. Dave erklärte Luna später beim Buffet (es gab Hummus, Dave war skeptisch, aß es aber), wie man einen Abfluss reinigt. Luna erklärte Dave, warum atmen hilft, wenn man wütend auf den Abfluss ist. Es war ein Austausch von Kompetenzen. Ein Handel zwischen zwei Stämmen.
Die Evolution der Gemeinschaft
Als ich an diesem Abend mit meiner kleinen Truppe nach Hause fuhr, war die Stimmung im Auto verändert. Es war nicht mehr das „Wir gegen Die“. „Die sind schon komisch“, sagte Enid schließlich. „Aber sie hören zu. Das muss man ihnen lassen. Die meisten Leute hören nur, bis sie selbst reden können. Die hören zu, bis man fertig ist.“ „Ja“, sagte Dave. „Und dieser Hummus… gar nicht so schlecht. Schmeckt wie Erbsenpüree mit Migrationshintergrund.“
Ich lehnte mich zurück und lächelte. Mein Experiment, die Welten zu mischen, hätte in einer Katastrophe enden können. Dass es das nicht tat, lag nicht an meiner brillanten Moderation. Es lag daran, dass die DNA des We Space robust genug war, um Dave auszuhalten. Und dass Dave (und Enid) menschlich genug waren, um den We Space auszuhalten.
Ich begriff einen weiteren Aspekt der Knowledgebase: „Wahre Integration ist nicht, wenn alle gleich werden. Wahre Integration ist, wenn das Verschiedene nebeneinander existieren kann, ohne sich zu bekämpfen.“ Wir brauchen nicht sieben Milliarden Menschen, die im Kreis sitzen und atmen. Wir brauchen Gärtner, Buchhalter, Ingenieure. Aber wir brauchen Ingenieure, die wissen, wie sie sich fühlen. Und wir brauchen Meditierende, die wissen, wie man einen Reifen wechselt.
Der Abschied vom Perfektionismus
Dieses Kapitel markiert das Ende meiner Suche nach dem „perfekten“ Ort. Am Anfang des Buches dachte ich, der We Space sei das Paradies. Ein Ort ohne die Nervigkeit des Alltags. Jetzt weiß ich: Das Paradies ist langweilig. Das wirkliche Leben findet an der Schnittstelle statt. Dort, wo Daves Polohemd auf Lunas Schal trifft. Dort ist Reibung. Dort ist Missverständnis. Aber dort ist auch Wachstum.
Ich habe meinen „Whisky-Club“ nicht aufgelöst. Wir treffen uns weiter. Aber manchmal machen wir jetzt einen Check-in, bevor wir den Whisky öffnen. Und neulich sah ich, wie Dave am Zaun stand, tief durchatmete und nicht sofort seinen Rasenmäher anschrie, als er nicht anging. Er atmete. Er spürte seine Wut. Und dann trat er erst gegen den Rasenmäher. Ein kleiner Schritt für Dave. Ein riesiger Sprung für die Menschheit.
Buchholz’sches Schlusswort: Die unendliche Baustelle
Wenn Sie, lieber Leser, bis hierher durchgehalten haben, haben Sie vermutlich eine Menge über Gruppen, Gefühle und meine neurotischen Nachbarn gelernt. Vielleicht fragen Sie sich: Was jetzt? Soll ich einen Kreis gründen? Soll ich meinen Nachbarn umarmen? Soll ich Hummus kaufen? Die Antwort lautet: Ja. Nein. Vielleicht.
Die wichtigste Lektion dieses Buches ist, dass es keine fertige Antwort gibt. Gemeinschaft ist kein IKEA-Regal, das man einmal aufbaut und das dann steht (oder wackelt). Gemeinschaft ist ein Garten. Man muss gießen. Man muss Unkraut jäten (die eigenen Vorurteile). Man muss den Kompost (die Konflikte) umgraben, damit daraus fruchtbare Erde wird. Und manchmal regnet es, und alles ist matschig und hässlich. Aber dann kommt eine alte Dame namens Enid und sagt einen Satz, der so wahr ist, dass er wie eine Blume durch den Asphalt bricht.
Das „Gegenteil von Einsamkeit“ ist nicht Gesellschaft. Das Gegenteil von Einsamkeit ist Zugehörigkeit. Und Zugehörigkeit entsteht nicht, indem wir uns anpassen. Sie entsteht, indem wir uns zumuten. Mit unseren Ecken, Kanten, Polohemden und Chakren.
Ich bin Billy Buchholz. Ich bin immer noch gern allein. Aber ich weiß jetzt, dass ich jederzeit zurückkommen kann. In den Kreis. In den Whisky-Club. In die Menschheit. Und ich habe gelernt, dass die Tür nicht verschlossen ist. Sie klemmt nur manchmal ein bisschen. Aber dafür haben wir ja Dave. Der hat Werkzeug.
(Anmerkung der Autorin: Die in diesem Buch beschriebenen Personen sind natürlich frei erfunden, oder zumindest so stark verfremdet, dass mein echter Nachbar mich nicht verklagen kann. Sollten Sie jedoch einen Dave kennen: Umarmen Sie ihn. Aber warnen Sie ihn vorher.)
Kapitel 9: Das Woodstock der Introvertierten (oder: Wer hat den Tofu ins Wurstwasser gelegt?)
Es liegt in der Natur des Menschen – oder zumindest in der Natur jener Sorte Mensch, die gerne Dinge organisiert –, dass sie sich nie mit dem Kleinen zufriedengibt. Wenn man drei Menschen hat, die sich gut verstehen, will man sofort dreißig. Wenn man dreißig hat, will man eine Bewegung. Und wenn man eine Bewegung hat, mietet man früher oder später eine Jugendherberge in der Pampa, kauft Unmengen an Linseneintopf und nennt das Ganze „The Gathering“ oder „Convergence“ oder, wie in unserem Fall: „Das Große Wir“.
Nach dem Erfolg der Verschmelzung meines Whisky-Clubs mit dem We Space (siehe Kapitel 8) dachte ich, ich hätte den Gipfel der sozialen Integration erreicht. Dave hatte Hummus gegessen. Enid hatte eine spirituelle Weisheit verkündet. Ich dachte, ich könnte mich jetzt zur Ruhe setzen und wieder Bücher über die Geschichte des englischen Vorgartens schreiben. Doch Felix und Caro hatten andere Pläne. In der Knowledgebase gibt es einen Abschnitt, den ich bisher geflissentlich überlesen hatte: „Die Stadtgemeinschaft“. Die Idee ist so simpel wie größenwahnsinnig: Was passiert, wenn man viele kleine „Tribes“ (Stämme) nimmt und sie zu einem Netzwerk verbindet? Wenn man nicht nur einen Dienstagabend teilt, sondern ein ganzes Wochenende? Es entsteht, so die Theorie, eine „Angebotsgemeinschaft“ auf Makro-Ebene. Ein Dorf auf Zeit. Ein Laboratorium für eine neue Gesellschaft.
Als ich die Einladung erhielt („Ein Wochenende der radikalen Begegnung in der Eifel“), war mein erster Reflex: Löschen. Mein zweiter Reflex: Dave fragen. „Ein Wochenende?“, fragte Dave. „Mit Übernachtung?“ „Ja.“ „Gibt es Einzelzimmer?“ „Wahrscheinlich Mehrbettzimmer. Stockbetten.“ Dave starrte mich an. „Billy, ich bin keine 20 mehr. Ich schlafe nicht in einem Stockbett, es sei denn, ich bin im Gefängnis oder auf einem U-Boot.“ „Enid kommt auch“, log ich. „Enid? Im Stockbett?“ „Sie hat gesagt, sie bringt ihre eigene Matratze mit.“ Dave seufzte. Ein tiefes, resigniertes Seufzen, das klang wie ein altersschwacher Blasebalg. „Na gut. Aber ich fahre. Und wenn einer anfängt zu singen, drehen wir um.“
Die Ankunft im Tal der Ahnungslosen
Wir fuhren in die Eifel. Die Eifel ist eine Gegend in Deutschland, die dafür bekannt ist, dass sie aus Vulkanen, Nürburgring-Fans und sehr viel Wetter besteht. Unser Ziel war ein altes Schullandheim, das den Charme einer Kaserne aus den 1950er Jahren versprühte. Es roch nach Bohnerwachs, Hagebuttentee und der Angst von Generationen von Schülern, die hier ihr Heimweh bekämpft hatten.
Auf dem Parkplatz herrschte bereits das Chaos, das entsteht, wenn hundert Individualisten versuchen, kollektiv einzuparken. Es waren alle da. Die Veteranen aus meinem ersten Kurs. Die Neulinge. Menschen, die aussahen wie Bankdirektoren, und Menschen, die aussahen, als würden sie ihre Kleidung aus Moos selbst weben. Felix stand mitten im Gewühl und dirigierte den Verkehr mit einer Gelassenheit, die an Wahnsinn grenzte. „Willkommen in der Stadtgemeinschaft!“, rief er mir zu. „Park einfach da hinten auf der Wiese, Billy!“ „Da ist Schlamm, Felix.“ „Das ist Erdung!“, rief er zurück.
Dave parkte seinen Wagen (einen sehr sauberen, sehr vernünftigen Kombi) präzise zwischen einem VW-Bus mit „Atomkraft? Nein Danke“-Aufkleber und einem Tesla. „Das“, sagte Dave und deutete auf die Szenerie, „ist der Anfang vom Ende der Zivilisation.“ Enid stieg aus dem Fond. Sie trug einen Hut, der aussah, als könnte man damit Bären jagen, und hielt eine Tupperdose mit Frikadellen fest umklammert. „Ich esse nichts, was ich nicht identifizieren kann“, verkündete sie. „Das ist meine Überlebensration.“
Die Architektur der Anarchie (Angebotsgemeinschaft 2.0)
Wir versammelten uns in der großen Halle. Normalerweise gibt es bei solchen Veranstaltungen einen strengen Zeitplan. 9:00 Uhr Frühstück, 10:00 Uhr Vortrag, 11:00 Uhr Gruppenarbeit. Aber das hier war We Space. Wir hatten eine DNA, kein Programm. An der Wand hing ein riesiges leeres Papier. Darüber stand: „Der Marktplatz“. Felix erklärte das Prinzip, das in der Knowledgebase als das Herzstück der Großgruppe beschrieben wird. „Wir haben keinen Plan“, sagte er fröhlich. „Wir haben euch. Ihr seid die Experten. Wir bilden eine Angebotsgemeinschaft. Wer etwas geben will, schreibt es an die Wand. Wer etwas nehmen will, geht hin.“
Das ist das Prinzip der Selbstorganisation. Es klingt nach Utopie, führt aber in der Praxis oft dazu, dass man drei Workshops über „Achtsames Atmen“ hat und niemanden, der weiß, wie man die Kaffeemaschine entkalkt. Doch ich unterschätzte die Gruppe. Innerhalb von zehn Minuten füllte sich die Wand. Und die Mischung war… eklektisch.
„Kontakt-Improvisation im Schlamm“ (Raum: Wiese)
„Wie man seine Steuererklärung liebt“ (Raum: Kaminzimmer)
„Schreien im Wald“ (Treffpunkt: Schranke)
„Quantenphysik für Dummies“ (Raum 3)
„Dave’s Kettensägen-Massaker: Einführung in die Wartung von Gartengeräten“ (Parkplatz)
Ich blinzelte. Dave? Ich suchte ihn. Er stand bei Felix und ließ sich einen dicken Filzstift geben. „Dave?“, fragte ich. „Kettensägen?“ „Jemand muss hier ja was Praktisches machen“, brummte er. „Außerdem habe ich gesehen, wie der Hausmeister die Hecke schneidet. Es ist eine Schande. Ich zeige denen, wie man Werkzeug pflegt.“ Ich sah zu Enid. Sie stand bereits an der Wand und schrieb mit zittriger, aber entschlossener Handschrift:
„Frikadellen braten & Lebensweisheiten von 1945 bis heute“ (Küche)
Billy im Wunderland der Optionen
Ich stand vor der Wand und fühlte mich überfordert. Das ist das Paradox der Wahlfreiheit. Wenn man alles tun kann, tut man oft gar nichts und steht nur im Weg rum. In der Sammlung wird dieses Gefühl als „Schwellenangst“ beschrieben. Der Moment, bevor man ins Wasser springt. Ich entschied mich gegen das „Schreien im Wald“ (das mache ich innerlich oft genug) und für „Quantenphysik“. Der Raum war voll. Ein junger Mann mit wilden Haaren erklärte das Doppelspaltexperiment. „Teilchen verhalten sich anders, wenn sie beobachtet werden“, sagte er. „Genau wie wir. Wenn wir uns im We Space beobachten – also ‚bezeugen‘ –, verändern wir uns. Die Aufmerksamkeit kollabiert die Wellenfunktion unserer Neurosen.“
Das war brillant. Es war der wissenschaftliche Beweis für das, was wir hier taten. Wir waren alle nur Wahrscheinlichkeitswellen aus Angst und Hoffnung, bis uns jemand ansah. Dann wurden wir fest. Wir wurden jemand. Ich sah mich im Raum um. Da saßen Menschen, die sich vor zwei Stunden noch fremd waren, und nickten. Es herrschte eine dichte, konzentrierte Stille. Das war die Stadtgemeinschaft in Aktion. Es gab keinen Guru vorne. Es gab nur Wissen, das geteilt wurde.
Die Krise in der Küche (Der Realitätscheck)
Doch jede Utopie hat ihren wunden Punkt. Meistens ist es der Abwasch. Gegen 18 Uhr verbreitete sich Unruhe. Der Hunger kam. Das Küchenteam (bestehend aus Freiwilligen, die dachten, „Kochen für 100“ sei so ähnlich wie „Kochen für 4“ nur mit größeren Töpfen) war heillos überfordert. Der Reis war angebrannt. Die Soße war zu dünn. Und jemand hatte – in einem Anfall von inklusiver Begeisterung – den veganen Tofu in das Wasser geworfen, in dem die Würstchen für die Fleischesser schwammen. Das Ergebnis war ein kulinarischer Bürgerkrieg. Die Veganer waren entsetzt („Mein Tofu schmeckt nach Tod!“), die Fleischesser waren verwirrt („Warum schmeckt meine Wurst nach Pappe?“).
Ich stand in der Tür der Großküche und beobachtete das Chaos. Es war ein Lehrstück über das Scheitern von Strukturen. In der Knowledgebase steht: „Struktur gibt Freiheit.“ Hier fehlte Struktur. Hier herrschte nur gute Absicht. Und gute Absicht kocht keinen Reis.
Plötzlich teilte sich die Menge wie das Rote Meer. Enid trat ein. Sie hatte ihren Hut abgelegt und eine Schürze umgebunden, die sie irgendwo gefunden hatte. Sie sah aus wie eine Generalin, die ein Schlachtfeld betritt, das von Inkompetenz verwüstet wurde. „Raus!“, sagte sie. Nicht laut. Aber mit einer Autorität, die keinen Widerspruch duldete. „Aber wir sind das Koch-Team…“, stammelte ein junger Mann mit Dreadlocks. „Ihr seid im Weg“, sagte Enid. „Du da, mit den Haaren: Du schneidest Zwiebeln. Du da: Du spülst Töpfe. Und wer hat den Tofu zur Wurst getan?“ Ein betretenes Schweigen. „Egal. Wir trennen das jetzt. Dave!“ Dave erschien in der Tür, als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet. „Ja, Enid?“ „Reparier den Abfluss. Der ist verstopft. Und dann hilf mir, diese Frikadellen zu retten.“
Was dann folgte, war keine Demokratie. Es war eine wohlwollende Diktatur. Enid und Dave übernahmen das Kommando. Sie ignorierten das Initiativeprinzip. Sie ignorierten die Gewaltfreie Kommunikation („Das ist kein Schneiden, das ist Massakrieren!“, rief Enid). Aber innerhalb von 45 Minuten stand das Essen auf dem Tisch. Es gab geretteten Reis. Es gab getrennte Soßen. Und es gab Enids Frikadellen (und eine vegane Alternative, die Enid zähneknirschend improvisiert hatte).
Als wir aßen, herrschte eine zufriedene Stille. Felix setzte sich zu mir. „Faszinierend“, sagte er und kaute auf einer Frikadelle. „Was?“ „Die Selbstorganisation. Das System hat sich selbst reguliert. Das Chaos hat nach Kompetenz gerufen, und die Kompetenz ist erschienen.“ „Felix“, sagte ich, „das war keine Selbstregulation. Das war Enid.“ „Genau. Enid ist Teil des Systems. In einer echten Stadtgemeinschaft übernimmt jeder die Rolle, die gebraucht wird. Manchmal braucht man jemanden, der zuhört. Und manchmal braucht man jemanden, der Befehle brüllt.“
Am Abend machten wir ein Feuer draußen. Es ist ein Klischee, ich weiß. Menschen am Feuer. Gitarren. Aber Klischees sind oft deshalb Klischees, weil sie funktionieren. Wir saßen da, hundert Menschen im Schein der Flammen. Es wurde gesungen. Schlimme Lieder („Kumbaya“) und gute Lieder (Beatles). Aber es passierte noch etwas anderes. Die Grenzen zwischen den Gruppen lösten sich auf. Ich sah Dave. Er saß neben dem Quantenphysik-Typen. Dave erklärte ihm etwas mit wilden Handbewegungen (vermutlich den Unterschied zwischen Zweitakt- und Viertaktmotoren), und der Physiker nickte fasziniert. Ich sah Enid. Sie saß neben Luna. Luna hatte ihren Kopf auf Enids Schulter gelegt. Enid wirkte steif, aber sie schubste Luna nicht weg. Sie tätschelte ihr sogar unbeholfen den Arm.
Ich dachte an die Knowledgebase und den Begriff der „Zellfusion“. Das hier war es. Es war nicht perfekt. Es roch nach verbranntem Tofu und Rauch. Jemand schnarchte bereits im Hintergrund. Aber es war ein Organismus. Ein Organismus, der aus völlig unterschiedlichen Zellen bestand – aus Machern und Fühlern, aus Denkern und Nörglern. Und dieser Organismus lebte.
Ein historischer Vergleich: Warum Utopien scheitern (und diese vielleicht nicht)
Im 19. Jahrhundert gab es in Amerika Dutzende von utopischen Kommunen. Die Shaker, die Oneida-Community, New Harmony. Fast alle scheiterten. Warum? Weil sie Reinheit wollten. Sie wollten eine perfekte Welt mit perfekten Menschen. Sie hatten strenge Regeln, wer dazu gehörte und wer nicht. Der We Space, so dachte ich, während ich in die Glut starrte, hat eine Chance zu überleben. Warum? Weil er nicht rein ist. Er erlaubt den Schmutz. Er erlaubt Dave. Er erlaubt den Konflikt in der Küche. Die DNA ist kein Reinheitsgebot. Sie ist ein Betriebssystem, das auf verschiedenen Rechnern läuft – auf den schnellen, neuen Macs (Luna) und auf den alten, robusten Windows-95-Kisten (Dave).
Wir versuchen nicht, eine neue Welt zu bauen, in der es keine Probleme gibt. Wir bauen eine Welt, in der wir besser mit den Problemen umgehen. Wir bauen keine Kathedrale. Wir bauen eine Werkstatt. Und in einer Werkstatt ist es okay, wenn Öl am Boden ist.
Die Nacht der langen Messer (oder: Schnarcher im Schlafsaal)
Die Nacht war, wie erwartet, eine Prüfung. Dave hatte recht gehabt. Stockbetten sind ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Ich lag oben. Unter mir lag ein Mann, der Geräusche machte, als würde er einen Wald abholzen. Normalerweise wäre ich geflohen. Ich hätte mich ins Auto gesetzt und wäre nach Hause gefahren. Für eine britische Lady ist das Teilen eines Schlafsaals mit fremden, schnarchenden Männern eigentlich ein Grund für eine diplomatische Note. Aber ich blieb. Ich dachte an die Übung „Grenzen spüren“. Ich dachte an „Co-Regulation“. Ich versuchte, mein Atmen mit dem Schnarchen zu synchronisieren. (Spoiler: Es funktioniert nicht. Schnarchen ist arythmisch. Es ist der Jazz des Schlafes). Aber ich ärgerte mich nicht. Zumindest nicht so sehr wie sonst. Ich dachte: Das ist der Sound der Gemeinschaft. Es ist nicht schön. Aber wir sind nicht allein.
Am nächsten Morgen beim Frühstück (Enid hatte die Küche wieder fest im Griff, es gab Rührei nach militärischem Standard) sahen alle etwas zerknautscht aus. Aber die Augen waren wach. Wir hatten die Nacht überlebt. Wir hatten das Chaos überlebt. Wir hatten uns selbst überlebt.
Der Abschied: Ein Netz, kein Kreis
Am Ende des Wochenendes standen wir nicht mehr im Kreis. Wir standen wild verstreut auf dem Parkplatz. Es gab keine große Abschlussrede. Es gab nur viele kleine Abschiede. Leute tauschten Nummern aus. „Kommst du mal vorbei? Ich zeig dir, wie man diese Kettensäge schärft.“ „Gerne. Und ich zeig dir, wie man meditiert, ohne einzuschlafen.“
Felix kam zu mir. Er sah müde, aber glücklich aus. „Und, Billy?“, fragte er. „Wie war die Stadtgemeinschaft?“ „Chaotisch“, sagte ich. „Laut. Anstrengend. Die Matratzen waren eine Folter.“ Felix grinste. „Klingt nach einem Erfolg.“ „Ja“, gab ich zu. „Es war… echt. Es war kein Workshop. Es war Leben.“
Ich ging zu meinem Auto. Dave wartete schon. Er hatte den Kofferraum bereits perfekt gepackt. „Na?“, fragte ich. „Nie wieder?“ Dave startete den Motor. „Weißt du, Billy… der Typ mit der Quantenphysik war interessant. Er sagt, Motoren funktionieren eigentlich gar nicht, das ist nur eine Wahrscheinlichkeit. Ich habe ihm gesagt, er soll mal meine Rechnung bezahlen, das ist auch nur eine Wahrscheinlichkeit.“ Dave lachte. Ein echtes Lachen. „Und Enid?“, fragte ich nach hinten. Enid aß den Rest ihrer Frikadellen. „Das Mädchen, Luna… die braucht jemanden, der auf sie aufpasst. Ich habe ihr meine Nummer gegeben. Falls sie mal Rat braucht. Oder ein Rezept.“
Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Wir fuhren aus der Eifel zurück in die Zivilisation. Zurück zu den Zäunen, den Mülltonnen und den geschlossenen Türen. Aber das Netz war gespannt. Die Stadtgemeinschaft war kein Ort. Sie war ein unsichtbares Myzel, das sich unter der Erde von Surrey ausbreitete. Dave war jetzt ein Knotenpunkt. Enid war ein Knotenpunkt. Ich war einer. Wir waren verbunden.
Buchholz’sches Fazit 3.0: Das Ende vom Anfang
Dies ist das neunte Kapitel. Eine seltsame Zahl um aufzuhören, aber vielleicht passend. Die Neun ist fast die Zehn, aber eben nicht ganz perfekt. Wie wir. Ich habe in diesem Buch versucht, eine Reise zu beschreiben. Von der Einsamkeit des Sofas in die Gemeinschaft des Kreises, und dann hinaus in die wilde Welt der Nachbarschaft und schließlich in das große Chaos des Dorfes.
Ich habe gelernt, dass wir Menschen zutiefst widersprüchliche Wesen sind. Wir wollen dazu gehören, aber wir wollen unsere Ruhe. Wir wollen gesehen werden, aber wir wollen uns verstecken. Wir wollen Tofu, aber wir wollen, dass er nach Wurst schmeckt.
Der We Space löst diesen Widerspruch nicht auf. Er macht ihn nur bewohnbar. Er gibt uns Werkzeuge an die Hand – den Check-in, das Initiativeprinzip, die Fishbowl –, mit denen wir uns in diesem Widerspruch einrichten können. Er lehrt uns, dass wir nicht perfekt sein müssen, um geliebt zu werden. Und dass wir, wenn wir Glück haben, jemanden finden, der unsere Kettensäge schärft, während wir ihm von unserer Seele erzählen.
Die Geschichte des Gegenteils von Einsamkeit ist keine Geschichte von Happy Ends. Es ist eine Geschichte von Happy Beginnings. Jedes Mal, wenn wir den Mut haben, „Ich“ zu sagen, und den noch größeren Mut haben, „Wir“ zu sagen, beginnt die Geschichte neu.
Ich werde jetzt nach Hause fahren. Ich werde meinen Rasen mähen (unter Daves Aufsicht). Ich werde mit Enid Tee trinken. Und vielleicht, wenn der Wind günstig steht und niemand guckt, werde ich mich auf eine Parkbank setzen, die Augen schließen und einfach nur atmen. In dem Wissen, dass ich Teil von etwas Größerem bin. Etwas, das chaotisch, laut, nervig und absolut wunderbar ist. Wir nennen es Menschheit.
Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich glaube, ich habe noch eine Tupperdose mit veganen Frikadellen in meiner Tasche. Ich bin mir fast sicher, dass sie inzwischen eine eigene Zivilisation gegründet haben.
Kapitel 10: Die Unerträglichkeit des normalen Dienstags (oder: Wie man die Welt rettet, ohne aufzustehen)
Es gibt ein physikalisches Gesetz, das besagt: Was hochsteigt, muss auch wieder herunterkommen. Isaac Newton formulierte das, nachdem ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen war, was beweist, dass große Erkenntnisse oft durch leichte Gehirnerschütterungen ausgelöst werden. Für emotionale Höhenflüge gilt dasselbe Gesetz. Nach dem „Woodstock der Introvertierten“ in der Eifel, nach dem kollektiven Singen am Lagerfeuer und der wundersamen Frikadellen-Vermehrung durch Enid, folgte der unvermeidliche Absturz in die Realität.
Wir kehrten zurück nach England. Der Himmel war grau, der Tee war lauwarm, und niemand – absolut niemand – interessierte sich dafür, dass wir gerade eine mikrokosmische Utopie erlebt hatten. Ich versuchte, meinem Verleger davon zu erzählen. „Es war unglaublich, John“, sagte ich. „Wir haben eine ‚Angebotsgemeinschaft‘ gebildet. Dave hat Kettensägen gewartet, und wir haben unsere ‚soziale Wellenfunktion kollabieren lassen‘.“ John starrte mich an, als hätte ich ihm gerade erzählt, dass ich plane, eine Kolonie auf dem Mars zu gründen, um dort lila Kartoffeln zu züchten. „Das ist schön, Billy“, sagte er und schob mir einen Vertrag über ein Buch über die Geschichte der britischen Kanalisation zu. „Aber die Leser wollen Fakten über Abwasserrohre, keine spirituellen Kettensägen.“
Ich realisierte: Ich war eine Fremde in meiner eigenen Welt geworden. Ich hatte das „We Space“-Virus in mir, aber die Welt um mich herum war immun. Sie war beschäftigt, zynisch und effizient. Die Frage, die über diesem letzten Kapitel schwebt, ist also die Gretchenfrage jeder Revolution: Wie überlebt das Feuer, wenn es regnet?
Der Whisky-Club: Mutation einer Zelle
Der erste Test fand am darauffolgenden Dienstag statt. Der Whisky-Club tagte wieder in meinem Wohnzimmer. Ich war nervös. Würde die Magie der Eifel verflogen sein? Würden wir wieder über Mülltonnen reden, als wäre nichts geschehen? Dave kam herein. Er trug sein Polohemd. Er sah aus wie immer. Enid kam herein. Sie hatte ihren Hut auf. Sie sah aus wie immer. Mr. Peterson kam herein. Er zitterte leicht. Er sah aus wie immer.
Wir setzten uns. Ich holte den Whisky (einen 12-jährigen Single Malt, wir hatten uns gesteigert). „Also“, sagte Dave und schraubte die Flasche auf. „Das Wetter ist beschissen.“ Mein Herz sank. Das war’s. Zurück auf Los. Aber dann schenkte Dave ein, schaute in die Runde und sagte: „Und das passt genau zu meiner Stimmung. Ich fühle mich heute grau. Wie alter Beton.“
Ich blinzelte. Enid nickte. Sie sagte nicht: „Kopf hoch, Dave.“ Sie sagte nicht: „Du brauchst Vitamine.“ Sie sagte: „Ich verstehe das, Dave. Beton ist hart. Man kann nicht atmen unter Beton.“ Mr. Peterson legte seine Hand kurz auf Daves Arm. Nur für eine Sekunde.
Da war sie. Die Veränderung. Sie war subtil. Ein Außenstehender hätte sie vielleicht übersehen. Wir redeten immer noch über das Wetter (wir sind Briten, wir können nicht anders), aber wir benutzten das Wetter als Metapher für unsere Innenwelt. Wir hatten, ohne es explizit zu benennen, die DNA integriert. Wir machten keinen formalen „Check-in“. Wir nannten es nicht „Schattenarbeit“. Aber wir praktizierten das, was die Knowledgebase als „Kulturveränderung“ bezeichnet. Kultur ist nicht das, was man an Feiertagen macht. Kultur ist das, was man an einem verregneten Dienstagabend macht, wenn niemand zuschaut.
Enids Aufstand (Die Zellteilung)
Die größte Überraschung aber kam von Enid. Zwei Wochen nach unserer Rückkehr klingelte es an meiner Tür. Es war Enid. Sie wirkte aufgeregt. „Billy“, sagte sie. „Ich habe ein Problem.“ „Ist dein Abfluss wieder verstopft? Soll ich Dave rufen?“ „Nein. Es geht um den Strickkreis.“ „Der Strickkreis?“ „Jeden Donnerstag. In der Gemeindehalle. Wir stricken Socken für Waisenkinder.“ „Das klingt sehr lobenswert, Enid.“ „Es ist die Hölle“, zischte sie. „Wir sitzen da, klappern mit den Nadeln und lästern über Leute, die nicht da sind. Gestern haben sie 20 Minuten über Mrs. Higgins’ neue Gardinen geredet. Dass die Farbe vulgär sei.“
„Und?“ „Ich habe es nicht ausgehalten“, sagte Enid. „Mir ist der Kragen geplatzt. Ich bin aufgestanden und habe gesagt: ‚Mädels, ist es nicht völlig egal, welche Farbe die Gardinen haben? Ist es nicht viel wichtiger, warum Mrs. Higgins so einsam ist, dass sie jede Woche neue Gardinen kauft, nur damit der Dekorateur mit ihr redet?’“ Ich starrte Enid an. „Wow. Und dann?“ „Dann war es totenstill. Man hätte eine Masche fallen hören können.“ „Und dann?“ „Dann hat Martha – die Vorsitzende – gesagt: ‚Enid, hast du deine Pillen nicht genommen?’“
Enid schnaubte. „Aber danach“, fuhr sie fort, und ihre Augen leuchteten, „danach kam die junge Sarah zu mir. Die Neue. Und sie hat gesagt: ‚Danke, Enid. Ich dachte schon, ich bin die Einzige, die das Gerede nicht erträgt.‘“ Enid machte eine dramatische Pause. „Billy, ich glaube, ich habe eine Zelle geteilt.“ Ich musste lachen. Sie benutzte das Vokabular der Sammlung. „Wir treffen uns jetzt“, sagte Enid verschwörerisch. „Sarah und ich. Und zwei andere, die das Lästern satt haben. Wir treffen uns bei mir. Zum Stricken. Aber ohne Lästern. Wir nennen es den ‚Wahren Maschen-Club‘.“
Ich war sprachlos. Das war der Tribe Starter-Effekt in Reinform. Enid hatte nicht versucht, den ganzen Strickkreis zu missionieren (was schiefgegangen wäre). Sie hatte einen Impuls gesetzt („Initiativeprinzip“), den Widerstand ausgehalten und dann diejenigen eingesammelt, die in Resonanz gegangen waren. Sie hatte eine neue Kultur geschaffen, mitten im Herzen der britischen Kleinbürgerlichkeit.
Ein Exkurs über Schleimpilze (Die Intelligenz des Schwarms)
Lassen Sie uns kurz einen wissenschaftlichen Umweg machen. Ich liebe Schleimpilze. Schleimpilze sind faszinierende Organismen. Sie bestehen aus Millionen einzelner Zellen, die normalerweise ihr eigenes Ding machen. Aber wenn die Nahrung knapp wird, schließen sie sich zusammen. Sie bilden einen einzigen, riesigen Organismus, der sich fortbewegen, Hindernisse überwinden und den kürzesten Weg durch ein Labyrinth finden kann. Wissenschaftler nennen das „Emergenz“. Das Ganze ist klüger als die Summe seiner Teile.
Was ich in den letzten Monaten beobachtet hatte – von meinem Wohnzimmer bis zur Eifel und zurück zu Enids Strickkreis – war menschliche Emergenz. Wir sind alle einzelne Amöben, die vor sich hin wurschteln. Wir kaufen Milch, wir zahlen Steuern, wir fürchten uns vor dem Tod. Aber wenn wir uns verbinden – wirklich verbinden, nicht nur nebeneinander herlaufen –, dann entsteht etwas Neues. Eine kollektive Intelligenz. Enids „Wahrer Maschen-Club“ ist klüger als Enid allein. Mein Whisky-Club ist emotional stabiler als Dave allein (und definitiv stabiler als ich allein).
Die Knowledgebase spricht von der Vision einer „Stadtgemeinschaft“. Ich hatte mir das immer als etwas sehr Organisiertes vorgestellt. Ein Verein mit einem Präsidenten und einem Newsletter. Aber jetzt begriff ich: Es ist eher wie ein Schleimpilz. Es ist ein Netzwerk aus kleinen Zellen – Dave, Enid, Sarah, Luna, Felix –, die durch unsichtbare Fäden verbunden sind. Wenn Enid Hilfe braucht, ruft sie Luna an (was sie tatsächlich tat, als ihr Kater krank war). Wenn Luna einen Handwerker braucht, ruft sie Dave an (der ihr erklärte, dass man einen Nagel nicht in eine Rigipswand hämmern kann, ohne dass die Wand beleidigt ist). Das Netzwerk hält. Ohne Chef. Ohne Plan. Einfach durch Beziehung.
Der Besuch des Kritikers
Es wäre kein echtes Buchholz-Buch, wenn nicht am Ende noch jemand käme, der versucht, alles kaputtzumachen. Dieser Jemand war mein Bruder Michael, der aus Amerika zu Besuch kam. Michael ist ein pragmatischer Mann. Er hält Gefühle für eine Erfindung der Pharmaindustrie, um Antidepressiva zu verkaufen, und glaubt, dass jedes Problem durch den Einsatz von genügend Klebeband oder Geld gelöst werden kann.
Er saß in meinem Wohnzimmer, trank meinen Whisky und hörte sich meine Geschichten an. „Also“, sagte er und zog eine Augenbraue hoch, die so buschig war, dass sie ein eigenes Ökosystem bildete. „Du triffst dich mit deinen Nachbarn, und ihr heult zusammen?“ „Wir heulen nicht, Michael. Wir teilen unsere Innenwelt.“ „Und was bringt das?“ „Was meinst du mit ‚bringen‘?“ „Was ist der Output? Baut ihr was? Verdient ihr Geld? Löst ihr den Nahostkonflikt?“ „Nein. Wir erzeugen Resonanz.“ Michael schnaubte. „Resonanz kann man nicht essen, Billy. Das klingt für mich nach Zeitverschwendung. Wir haben in Amerika auch solche Gruppen. Meistens enden sie damit, dass alle Batikhemden tragen und sich scheiden lassen.“
Ich dachte nach. Was war der „Output“? In einer Welt, die alles in ROI (Return on Investment) misst, war der We Space ein ökonomisches Desaster. Wir produzierten nichts, was man verkaufen konnte. „Michael“, sagte ich. „Erinnerst du dich an Mom?“ „Sicher.“ „Erinnerst du dich, wie sie nach Dads Tod war?“ „Sie war… still.“ „Genau. Sie war einsam. Mitten in einer Familie, die sie liebte, war sie einsam. Weil niemand sich traute, über Dad zu reden, weil wir dachten, das würde sie traurig machen.“ Michael schwieg. Er starrte in sein Glas. „Wir haben sie beschützt“, sagte ich. „Aber wir haben sie isoliert. Wenn wir einen ‚We Space‘ gehabt hätten… hätten wir vielleicht mit ihr weinen können. Statt nur neben ihr zu schweigen.“
Michael sagte lange nichts. Dann seufzte er. „Verdammt, Billy. Du hast immer das Talent, mir den Abend zu ruinieren.“ Aber er schenkte sich nach. Und dann erzählte er mir von seiner Angst, seinen Job zu verlieren. Es war kein perfekter Check-in. Aber es war ein Anfang.
Das Manifest für die Unvollkommenheit
Ein paar Tage später erhielt ich eine E-Mail von Felix. Es war ein Entwurf für das letzte Kapitel der Knowledgebase. Er nannte es: „Das Manifest der Unvollkommenheit“. Darin stand: „Wir werden scheitern. Wir werden uns streiten. Wir werden Momente haben, in denen wir uns hassen. Das ist kein Zeichen, dass es nicht funktioniert. Das ist der Beweis, dass es lebt. Eine perfekte Gemeinschaft ist ein Friedhof. Eine lebendige Gemeinschaft ist eine Baustelle.“
Das gefiel mir. Ich bin eine Fan von Baustellen. Baustellen sind Orte der Hoffnung. Da entsteht etwas. Mein Whisky-Club war eine Baustelle. Enids Strickkreis war eine Baustelle. Wir waren keine erleuchteten Wesen, die in Licht badeten. Wir waren Maurer, die versuchten, eine Wand zu bauen, ohne sich gegenseitig mit dem Mörtel zu bewerfen.
Der Blick in die Zukunft: 1000 Jahre Dienstag
Ich ging an meinem letzten Abend in den Garten. Es war einer dieser seltenen englischen Abende, an denen es nicht regnete, sondern nur so aussah, als würde es gleich regnen. Ich schaute über den Zaun. Bei Dave brannte Licht. Ich sah ihn durch das Fenster. Er saß am Tisch und las etwas. Wenn ich raten müsste: Die Bedienungsanleitung für eine neue Heckenschere. Oder vielleicht – ganz vielleicht – ein Buch über Achtsamkeit, das Luna ihm geschickt hatte. Bei Enid war es dunkel. Sie schlief wahrscheinlich schon, um fit zu sein für ihren revolutionären Strickkreis am nächsten Tag.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn sich das ausbreitet. Nicht als große Welle. Eher wie ein Virus (ein guter Virus, wenn es so etwas gibt). Ein Haus nach dem anderen. Eine Straße nach der anderen. Was wäre, wenn „Wie geht es dir?“ keine Floskel mehr wäre, sondern eine echte Frage? Was wäre, wenn wir aufhören würden, so zu tun, als hätten wir alles im Griff?
Wir würden keine Kriege beenden. Wir würden den Klimawandel nicht stoppen (dafür brauchen wir Ingenieure, nicht Frikadellen). Aber wir würden die Welt ein bisschen… weicher machen. Ein bisschen weniger einsam.
Buchholz’sches Schlusswort: Die Tür steht offen
Ich beende dieses Buch nicht mit einem Appell. Ich hasse Appelle. Ich beende es mit einer Beobachtung. Die Tür zu meinem Haus war früher immer verschlossen. Doppelter Riegel. Alarmanlage. Seit dem We Space lasse ich sie oft unverschlossen, wenn ich zu Hause bin. Nicht, weil ich leichtsinnig geworden bin. Sondern weil ich weiß, dass, wenn jemand reinkommt, es wahrscheinlich Dave ist, der mir sagen will, dass mein Rasen „erbärmlich“ aussieht. Oder Enid, die mir Frikadellen bringt. Oder ein Fremder, der sich verlaufen hat.
Und ich weiß jetzt, dass ich mit jedem von ihnen klarkomme. Ich habe das Werkzeug. Ich habe den Mut, ich zu sein. Und ich habe die Neugier, du zu sein.
Das Gegenteil von Einsamkeit ist nicht Anwesenheit. Das Gegenteil von Einsamkeit ist Verletzlichkeit. Solange wir unsere Rüstung tragen, sind wir allein, auch in der Menge. Wenn wir die Rüstung ablegen (oder zumindest das Visier hochklappen), kann uns der andere erreichen.
Es ist kalt ohne Rüstung. Es tut manchmal weh. Aber man spürt den Wind. Man spürt die Sonne. Und man spürt die Hand des anderen. Und das, meine Freunde, ist es wert.
Ich gehe jetzt rein. Dave hat gerade eine Nachricht geschickt: „Komm rüber. Ich habe einen Whisky gekauft, der nach Torf und Depression schmeckt. Genau dein Ding.“ Ich lächle. Ich bin Billy Buchholz. Ich bin eine Tribe Starterin wider Willen. Und ich bin nicht mehr ganz so allein.
Ende.
(P.S.: Wenn Sie dieses Buch in einem öffentlichen Verkehrsmittel lesen: Schauen Sie auf. Der Mensch Ihnen gegenüber hat auch Angst, auch Hoffnung und vermutlich auch Hunger. Bieten Sie ihm keine Frikadelle an, das wirkt gruselig. Aber vielleicht ein Lächeln. Das ist ein Anfang.)