Von Carolin Gaiser und Felix Schmidt, 07.11.2025
Wie wir als We Space ein gemeinsames Immunsystem entwickeln
Stell dir unsere We Space Gemeinschaft wie einen lebendigen Körper vor. Einen Körper, der wächst, der sich über Städte und Länder ausbreitet und immer vielfältiger wird.
Wie halten wir diesen Körper, unser gemeinsames Zuhause, sicher und gesund?
Der Gedanke, Kontakt zu einer Gemeinschaft zu suchen, die man noch nicht wirklich kennt, fühlt sich immer ein wenig risikoreich an. Historisch gesehen ist diese Vorsicht absolut begründet. Deshalb ist es für jeden, der neu dazukommt, enorm hilfreich, wenn wir als Gemeinschaft überprüfbare Sicherheitsstrukturen vorweisen können, die Vertrauen bilden.
Wenn wir an Sicherheit denken, kommen uns vielleicht Bilder von Mauern und Kontrolle in den Sinn. Aber was wäre, wenn die Antwort nicht in starren Zäunen, sondern in etwas Lebendigem liegt? Was wäre, wenn die Antwort ein Immunsystem ist?
Dieses Konzept ist mehr als nur eine kluge Metapher. Es ist ein Weg, wie wir gemeinsam auf die Herausforderungen von heute und die Stürme von morgen reagieren können – mit Achtsamkeit, Mut und einem tiefen Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Die Knochen unseres Körpers: Was uns von Grund auf sicher macht
Ein gesundes Immunsystem braucht ein starkes Skelett. Bevor wir über den aktiven Schutz sprechen, ist es wichtig zu sehen, wie We Space von Grund auf so gebaut ist, dass Machtmissbrauch und Konzentration von Einfluss extrem erschwert werden.
- Macht verteilt sich, statt sich zu bündeln: We Space ist dezentral organisiert. Das Herz der Gemeinschaft schlägt in vielen kleinen, unabhängigen Gruppen. Übergreifender Einfluss ist an Initiative und Verantwortung gekoppelt und niemand hat direkten Zugriff auf diese Gruppen. Es ist für keinen sichtbar, wer wo Mitglied ist. Macht verteilt sich natürlich auf viele Schultern, anstatt sich an einer Stelle zu konzentrieren.
- Verantwortung wandert: Die einflussreichsten Rollen, wie die Organisation von großen Workshopwochenenden, stehen jedem offen und sie rotieren. Über 30 verschiedene Mitglieder haben diese Rolle bereits ausgeübt. Die Verantwortung wandert von Hand zu Hand.
- Das Herz schlägt nicht für Geld: We Space ist nichtkommerziell. Alles wird nach dem Selbstkostenpreis-Prinzip organisiert; niemand verdient daran. Wir trennen klar zwischen Gemeinschaft und Geschäft, um unsere Beziehungen vor wirtschaftlichen Interessen zu schützen.
- Unsere Regeln sind Einladungen: Wir organisieren uns über sogenannte "DNA-Texte". Das sind Spielregeln, die aber wie ein Angebot funktionieren. Sie müssen erst von einer Gruppe oder für ein Event bewusst angenommen werden, bevor sie gelten. Jeder kann solche Regeln vorschlagen oder ablehnen. Dadurch entsteht ein freier Marktplatz für Ideen, auf dem sich nur durchsetzt, was der Gemeinschaft wirklich sicher und dienlich erscheint.
Diese Strukturen sind die Knochen. Sie geben uns Halt. Aber sie werden erst lebendig durch das Herz unseres Immunsystems.
Das Herz des Immunsystems: Fühlen, Sehen und Handeln
Ein Immunsystem im Körper hat zwei Hauptaufgaben: Es muss lernen, Bedrohungen zu erkennen, und es muss dann aktiv werden, um den Körper zu schützen. Unser soziales Immunsystem für We Space funktioniert ganz ähnlich und ruht auf zwei Säulen: Sensibilisierung und Zivilcourage.
1. Das gemeinsame Sehen (Sensibilisierung)
Zuerst müssen wir alle lernen, die Gefahren zu erkennen. Das bedeutet nicht, in Angst zu leben. Es bedeutet, einander mit offenem Herzen zuzuhören. Wir müssen immer wieder dafür sensibilisiert werden, welche Gefahrenszenarien es gibt.
Hier ist, was wir alle auf dem Schirm haben sollten:
- Die Gefahr eines „Gurus“: Ein "Guru" oder eine übermächtige Leitfigur kann problematisch sein. Wenn eine Person zu viel Macht hat, könnte sie diese missbrauchen – sei es finanziell, emotional oder sexuell. Sie könnte Kritik unterdrücken, wodurch Missstände unentdeckt bleiben und Mitglieder in eine ungesunde Abhängigkeit geraten.
- Die Gefahr des Geldes: Wenn wirtschaftliche Interessen wichtiger werden als unsere Beziehungen, verkümmert das Herz von We Space. Die Gemeinschaft könnte sich auf Profit konzentrieren und ethische Werte vernachlässigen. Es könnte Konkurrenzdruck entstehen, wo eigentlich Zusammenhalt sein sollte.
- Die Gefahr sexueller Übergriffe: Dies ist ein tiefes und ernstes Risiko. Wenn sexuelle Übergriffe toleriert oder vertuscht werden, entsteht eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens. Wenn Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wiederholen sie ihre Taten. Eine Gemeinschaft, die Täter schützt, verliert ihre moralische Integrität und das Sicherheitsgefühl aller.
- Die Gefahr der Retraumatisierung: We Space ist ein Ort der intensiven Begegnung. Das zieht Menschen an, die Heilung suchen. Doch intensive Workshops können durch unsensible Methoden auch traumatische Erfahrungen triggern. Ohne ausreichende Betreuung oder klare Ausstiegsmöglichkeiten können Prozesse eskalieren. Hier sind Selbstverantwortung, Achtsamkeit und ein dichtes soziales Netz überlebenswichtig.
- Gefahren durch Drogen und Gewalt: Diese Risiken bedrohen die körperliche und psychische Sicherheit. Sie können zu Unfällen, Gesundheitsproblemen und einem tiefen Vertrauensverlust führen.
- Die Gefahr der sektenhaften Strukturen: Um zu verhindern, dass wir uns abschotten, brauchen wir Transparenz, Meinungsvielfalt und den aktiven Kontakt zur Außenwelt. Wir müssen den kritischen Verstand und die individuelle Freiheit jedes Einzelnen aktiv einladen und schützen.
Wenn wir alle ein feines Gespür für diese Muster entwickeln, ist der erste - wichtigste Schritt getan.
2. Der mutige Schritt (Zivilcourage)
Wissen allein reicht nicht aus. Wenn wir etwas Beunruhigendes beobachten, muss dieses Wissen in Handeln münden. Das ist der Moment der Zivilcourage.
Der größte Feind unseres Immunsystems ist die Untätigkeit. Da Gemeinschaften wie unsere keine Polizei haben, müssen alle mit anpacken. Wir kennen vielleicht den „Zuschauer-Effekt“ (Bystander Effect) aus Experimenten: In einer Gefahrensituation neigen wir dazu, nichts zu tun, weil wir denken, jemand anderes wird schon eingreifen. Es ist wahrscheinlich, dass wir uns hier überschätzen.
Zivilcourage in We Space bedeutet, diese Lähmung zu durchbrechen. Sie zeigt sich auf drei wunderbare Weisen:
- Der Mut zur Initiative: Verantwortung zu übernehmen, digitale Räume für den Austausch zu schaffen oder Lösungen für soziale Konflikte vorzuschlagen. Es ist der Mut, trotz Unsicherheit voranzugehen.
- Der Mut zum Widerspruch: Die eigene Meinung zu äußern, auch wenn sie von der Mehrheit abweicht. Konstruktiv Widerspruch zu leisten, wenn wir Missstände erkennen.
- Der Mut zur Fürsorge: Nicht nur Konflikte anzugehen, sondern aktiv Solidarität zu zeigen. Einander zuzuhören, Unterstützung anzubieten und das soziale Miteinander zu stärken.
Die größte Hürde: Warum wir ein „Wir“ brauchen
Genau hier stoßen wir auf das Kernproblem: Niemand ist mutig für eine Gruppe, mit der er sich nicht identifiziert.
Je größer We Space wird, desto mehr wunderbare, unterschiedliche „Bubbles“ entstehen. Das ist eine Bereicherung! Aber wenn sich jeder nur mit seiner eigenen kleinen Bubble identifiziert und kein Gefühl für das große Ganze entsteht, funktioniert unser Immunsystem nicht.
Wir brauchen also beides: die tiefe Verbundenheit in unseren kleinen Räumen, aber auch das Gefühl, dass all diese Räume Teil derselben Familie sind.
Die Beschützer beschützen: Eine Kultur der Sicherheit schaffen
Zivilcourage bedeutet, Risiken einzugehen und eigene Energie einzusetzen. Dieser Schritt ist vielleicht der schwerste, denn er macht uns sichtbar und angreifbar.
Deshalb muss das oberste Ziel unseres Immunsystems sein, diese Kosten so gering wie möglich zu halten. Wir müssen eine Kultur aufbauen, in der es normal und sicher ist, Bedenken zu äußern. Eine Kultur, die fehlertolerant ist, denn wir alle müssen erst lernen, wie man Transparenz mit Fingerspitzengefühl herstellt.
Wie schaffen wir das?
- Präzedenzfälle schaffen: Wir brauchen frühe Beispiele, die zeigen, wie es geht. Jemand wird sichtbar und sagt: „Ich bin besorgt wegen X.“ Und die Gemeinschaft hört zu. Für die Person passiert nichts Negatives. Solche Momente sind Gold wert.
- Verantwortung statt Anonymität: Es ist verlockend, anonyme Meldewege anzubieten. Aber Anonymität trennt die Aussage von der Verantwortung. Sie kann, wie wir es in den sozialen Medien sehen, eine toxische Kultur der Schuldzuweisung fördern. Unser System sollte auf einer Verantwortungsethik basieren.
Wenn der Sturm da ist: Was tun, wenn es wirklich gefährlich wird?
Es wird Situationen geben, die so brisant sind, dass ein öffentlicher Impuls unmöglich ist. Die Kosten für den Einzelnen wären zu hoch. Was dann?
Dann greift ein anderer Teil des Immunsystems. Es ist der langsamere, mühsamere, aber oft einzige Weg: die private, vertrauliche Kommunikation. Du vertraust dich einem Menschen an, dem du zutiefst vertraust. Dieser vertraut sich vielleicht wieder jemandem an.
Die Information sickert langsam durch das System. Es fühlt sich an, als würde der Körper eine Grippe durchmachen. Es ist nicht schön. Aber es ist die Art und Weise, wie das System auch mit den schwersten Bedrohungen fertig wird, während es gleichzeitig seine Mitglieder schützt.
Diesen schmerzhaften Weg wollen wir aber möglichst vermeiden. Prävention ist der Schlüssel.
Unsere Vision: Eine Kultur, die den Mut ehrt
Wie sieht der Idealfall aus, nach dem wir streben?
Es ist eine Gemeinschaft, in der alle Teilnehmer die Gefahrenlagen kennen, weil wir sie regelmäßig und liebevoll teilen.
Und wenn dann jemand den Mut hat, auf eine Gefahr hinzuweisen, passiert das Schönste: Er wird nicht bestraft. Er wird unterstützt. Nur wenn das Eingehen von Risiken von der Gemeinschaft aktiv honoriert wird, entsteht überhaupt ein Anreiz dazu.
Andere einflussreiche Mitglieder solidarisieren sich, sie schützen die Person, die den Impuls gegeben hat, und sie werten ihren Beitrag auf.
Das ist das anzustrebende Schema: Ein persönliches Risiko wird eingegangen, und die Gemeinschaft antwortet mit Solidarität und Wertschätzung. Es geht um nichts Geringeres, als gemeinsam zu lernen, wie wir aufeinander aufpassen – mit wachen Augen, mutigen Stimmen und einem großen, gemeinsamen Herzen.